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Freitag, 26. Oktober 2012
Flügelpforte (1)
corona, 02:21h
Alice sitzt-mit einem Schlafanzug bekleidet- auf dem Sofa und schreibt ihren ersten Blogbeitrag. Ihr fällt ein, dass der Schlafanzug Damian sofort dazu veranlasst hätte sie aufzuziehen. Normalerweise müsste sie darüber schmunzeln. Heute nicht; ganz und gar nicht. Schuldgefühle, Angst und Unverständnis über sich selber schütteln sie. Eigentlich sitzt sie überhaupt nur deshalb schreibend am Rechner, weil sie hofft, das Gefühl der Missachtung für Damian so wenigstens abmildern zu können. Immer wieder hält sie im ebenfalls geöffneten Chatfenster nach ihm Ausschau, obwohl sie sicher ist, dass sie ihn heute dort nicht finden wird. Einerseits hofft sie, er möge doch noch erscheinen, damit sie sich entschuldigen kann. Andererseits fürchtet sie seine Reaktion aber so sehr, dass sie versucht zu verdrängen. Sie empfindet das Schreiben als eine Art Beschwörung: Ich hab großen Mist verursacht, aber ich werde es wieder gut machen so gut ich kann. Ihr Magen krampft sich zusammen als sie sich vorstellt, wie es Damian gerade geht. Er muss das Gefühl haben, sie trete das, was er für sie getan hatte mit Füßen. Am liebsten würde sie losheulen, doch sie verbietet es sich und zwingt sich ihre Konzentration dem Schreiben zuzuwenden.
Vor einigen Monaten war Damian in ihr Leben getreten. Oder sie in das Seine. Ja, das traf es besser. Damals hatte Alice sich sehr suchend gefühlt. Rastlos und von innerer Unruhe getrieben fehlte ihr jedoch jegliches klare Ziel. Warum sie allerdings ausgerechnet in einem SM-Chat Antworten zu finden hoffte wusste sie selbst nicht klar zu benennen. Vielleicht lag es daran, dass ihre Vorstellung von BDSM eine außerordentlich vielschichtige war und verschiedene ihr wichtige Themen miteinander verband. Vielleicht lag es aber auch bloß daran, dass sie einem Gefühl, einem inneren Impuls gefolgt war, ohne selber genau zu wissen was sie tat und warum. Was immer es war, es hatte sie zu Damian geführt.
Sie war buchstäblich über sein Profil gestolpert, war an seinem Foto, welches sein halbes Gesicht und damit nur ein Auge zeigte, hängen geblieben, und hatte sich darüber gewundert, wie sehr sie sich dadurch berührt gefühlt hatte. Sie erinnerte sich genau. Seltsam, diese Empfindung von Verbundenheit gepaart mit einer deutlichen Vorahnung von drohender Veränderung. Immer wieder hatte sie das einzelne abgebildete Auge studiert, es übte eine starke Anziehungskraft auf sie aus. Sie hatte versucht, sich die fehlenden Teile des Gesichtes und vor allem das zweite Auge vorzustellen.
Das Verlangen, mit dem Besitzer dieser Augen in Kontakt zu treten war fast erschreckend stark gewesen. Immer wieder hatte sie sich damals gefragt, wieso sie bei dem Foto eines vollkommen Fremden so empfand. Altbekannte Angst hatte sich eingeschlichen, doch es war weniger die Angst vor ihm gewesen als die Angst vor sich selber und der Unkontrollierbarkeit dieser sich anbahnenden Entwicklung. Alice schwante schon damals, dass es kein Zurück geben würde, wenn sie sich erst einmal entschlossen hatte, ihn anzuschreiben.
Natürlich war ihre damalige Neugierde stärker gewesen als ihre Angst. Sie hatte sich eingeredet, dass sie die Situation schon im Griff behalten könnte. Eigentlich erinnert sie sich gern an diese verheißungsvollen Anfänge. Doch heute empfindet sie Übelkeit, während sie diese Zeilen tippt. Sollte das, was damals so faszinierend begonnen hatte mit ihrem heutigen Fehler ein jähes Ende gefunden haben? Alice wirft schnell einen Blick in den Chat, Damian ist nicht dort. Sie widersteht dem Impuls ihm eine Mail zu senden und sich zu entschuldigen. Sicher wollte er gerade jetzt so rein gar nichts von ihr hören. Vor ein paar Stunden hatte sie überdeutlich seine Wut gespürt; ein starker Adrenalinstoß war durch sie hindurchgeschossen. Danach war ein eiskalter Schauer ihren Nacken und Rücken heruntergekrochen und eine fiese Gänsehaut hatte sich auf ihrem Körper ausgebreitet. Es hatte sich gleißend hell angefühlt.
Der Schock darüber, dass sie ihre Verabredung vergessen hatte, sitzt tief. Wie hatte ihr das nur passieren können? Alice reißt sich gewaltsam von diesen Gedanken los, bevor Selbstmitleid sich in ihr breit machen kann und schreibt weiter.
Viel war geschehen seit Alice das erste Mal mit Damian gechattet hatte. Nicht im Außen, da war im Grunde alles beim Alten geblieben. Doch innerlich vollzogen sich massive Veränderungen. Alice hält erneut inne und erinnert sich für einen Moment an das Gefühl, welches sie kürzlich so sehr genossen hatte. Die Empfindung, dass alles im Fluss, alles im Wandel begriffen ist hatte sie mit Vorfreude und eigenartigerweise auch mit ruhiger Zufriedenheit erfüllt. Sie überlegt wie es eigentlich dazu gekommen war, dass die vielen kleinen Zahnrädchen langsam ineinander gegriffen hatten.
Im ersten gemeinsamen Chat hatte Alice bereits den Eindruck gehabt, einen klugen und kritischen Mann getroffen zu haben, der wusste was er wollte und wie er es bekommt. Warum hatte sie ihm damals eigentlich eine falsche Identität unterjubeln wollen? Wollte sie einfach nur ausprobieren, wie es sich anfühlte jemand anders zu sein? Oder war es ihre unterschwellige Angst gewesen und der Versuch die Kontrolle über die kommenden Geschehnisse zu behalten, indem sie sich durch das wackelige Lügenkonstrukt selbst derart einschränkte, dass sie ihm niemals real gegenübertreten könnte?
Die ersten virtuellen Unterhaltungen, die sie miteinander geführt hatten - nein, die er mit ihr geführt hatte, denn bei aller Höflichkeit und Eloquenz bestand von Anfang an kein Zweifel daran, wer den Ton angab- die ersten Unterhaltungen waren aber bereits derart vielversprechend gewesen, dass Alice es sehr schnell verflucht hatte, ihn angelogen zu haben. Sie hatte ihm dann bei der nächsten Gelegenheit gebeichtet, dass sie nicht die war, für die sie sich ausgegeben hatte und, weil sie sich so sehr geschämt hatte, schweren Herzens verkündet, dass sie ihren Account löschen würde und ihn nicht mehr belästigen würde. Sie war selbst nicht ganz sicher, warum sie Lügen genutzt hatte um ihre Identität zu verschleiern. Sie hätte einfach sagen können, dass sie zu manchen Dingen, die in solchen Chatgesprächen üblicherweise erfragt wurden, keine Auskunft geben wollte. Doch der Gedanke war ihr gar nicht gekommen. Zu dämlich von ihr. Vielleicht war es aber auch leichter gewesen als jemand ganz anderes aufzutreten, vielleicht war Alice einfach noch nicht in der Lage den Ausmaßen ihrer Submissivität ins Auge zu blicken und dort zu erkennen, wie weit sie tatsächlich zu gehen bereit war. Jemand anderes zu sein vergrößerte die Distanz zu sich selber immens und Alice hätte so manchen ihrer ungeliebten Anteile wohl ganz gern mal ausgeklammert. Nachdem sie sich entschlossen hatte, Damian diesbezüglich die Wahrheit zu sagen, war sie ganz sicher gewesen, dass er den Kontakt sofort abbrechen wollte und sie empfand fast Trost bei dem Gedanken, ihm hinsichtlich des Beendens ihres Kontaktes zuvorzukommen und ihm nach der Beichte nicht mehr unter die Augen treten zu müssen. Doch es war anders gekommen.
Er hatte sie überraschenderweise nicht weggeschickt sondern vermittelt, dass er nicht beeindruckt sei und sie angewiesen, das hysterische Theater, welches sie gerade veranstaltete zu unterlassen. Er hatte ihr angeboten, diese Angelegenheit nun zu den Akten zu legen und die Chats fortzuführen, vorausgesetzt sie würde den folgenden Bedingungen zustimmen: Erstens hätte sie ihn nicht mehr anzulügen, zweitens keine Wechselhaftigkeiten zu pflegen und drittens aus dem Chatkontakt mit ihm ausschließlich die positiven Dinge für sich herauszuziehen ohne dem schlechten Gewissen ihrem realen Leben gegenüber Raum zu geben. Etwas verwirrt, aber doch erleichtert und froh über dieses Angebot hatte sie zugestimmt.
Wieder unterbricht Alice. Inzwischen ist es spät geworden, sehr spät. Der Chatraum ist voll, doch Damian ist nicht unter den Gästen. Erneut ist sie versucht, eine Mail zu verfassen; erneut entscheidet sie sich dagegen. Sie schaltet ihren Laptop aus und geht traurig ins Bett.
Vor einigen Monaten war Damian in ihr Leben getreten. Oder sie in das Seine. Ja, das traf es besser. Damals hatte Alice sich sehr suchend gefühlt. Rastlos und von innerer Unruhe getrieben fehlte ihr jedoch jegliches klare Ziel. Warum sie allerdings ausgerechnet in einem SM-Chat Antworten zu finden hoffte wusste sie selbst nicht klar zu benennen. Vielleicht lag es daran, dass ihre Vorstellung von BDSM eine außerordentlich vielschichtige war und verschiedene ihr wichtige Themen miteinander verband. Vielleicht lag es aber auch bloß daran, dass sie einem Gefühl, einem inneren Impuls gefolgt war, ohne selber genau zu wissen was sie tat und warum. Was immer es war, es hatte sie zu Damian geführt.
Sie war buchstäblich über sein Profil gestolpert, war an seinem Foto, welches sein halbes Gesicht und damit nur ein Auge zeigte, hängen geblieben, und hatte sich darüber gewundert, wie sehr sie sich dadurch berührt gefühlt hatte. Sie erinnerte sich genau. Seltsam, diese Empfindung von Verbundenheit gepaart mit einer deutlichen Vorahnung von drohender Veränderung. Immer wieder hatte sie das einzelne abgebildete Auge studiert, es übte eine starke Anziehungskraft auf sie aus. Sie hatte versucht, sich die fehlenden Teile des Gesichtes und vor allem das zweite Auge vorzustellen.
Das Verlangen, mit dem Besitzer dieser Augen in Kontakt zu treten war fast erschreckend stark gewesen. Immer wieder hatte sie sich damals gefragt, wieso sie bei dem Foto eines vollkommen Fremden so empfand. Altbekannte Angst hatte sich eingeschlichen, doch es war weniger die Angst vor ihm gewesen als die Angst vor sich selber und der Unkontrollierbarkeit dieser sich anbahnenden Entwicklung. Alice schwante schon damals, dass es kein Zurück geben würde, wenn sie sich erst einmal entschlossen hatte, ihn anzuschreiben.
Natürlich war ihre damalige Neugierde stärker gewesen als ihre Angst. Sie hatte sich eingeredet, dass sie die Situation schon im Griff behalten könnte. Eigentlich erinnert sie sich gern an diese verheißungsvollen Anfänge. Doch heute empfindet sie Übelkeit, während sie diese Zeilen tippt. Sollte das, was damals so faszinierend begonnen hatte mit ihrem heutigen Fehler ein jähes Ende gefunden haben? Alice wirft schnell einen Blick in den Chat, Damian ist nicht dort. Sie widersteht dem Impuls ihm eine Mail zu senden und sich zu entschuldigen. Sicher wollte er gerade jetzt so rein gar nichts von ihr hören. Vor ein paar Stunden hatte sie überdeutlich seine Wut gespürt; ein starker Adrenalinstoß war durch sie hindurchgeschossen. Danach war ein eiskalter Schauer ihren Nacken und Rücken heruntergekrochen und eine fiese Gänsehaut hatte sich auf ihrem Körper ausgebreitet. Es hatte sich gleißend hell angefühlt.
Der Schock darüber, dass sie ihre Verabredung vergessen hatte, sitzt tief. Wie hatte ihr das nur passieren können? Alice reißt sich gewaltsam von diesen Gedanken los, bevor Selbstmitleid sich in ihr breit machen kann und schreibt weiter.
Viel war geschehen seit Alice das erste Mal mit Damian gechattet hatte. Nicht im Außen, da war im Grunde alles beim Alten geblieben. Doch innerlich vollzogen sich massive Veränderungen. Alice hält erneut inne und erinnert sich für einen Moment an das Gefühl, welches sie kürzlich so sehr genossen hatte. Die Empfindung, dass alles im Fluss, alles im Wandel begriffen ist hatte sie mit Vorfreude und eigenartigerweise auch mit ruhiger Zufriedenheit erfüllt. Sie überlegt wie es eigentlich dazu gekommen war, dass die vielen kleinen Zahnrädchen langsam ineinander gegriffen hatten.
Im ersten gemeinsamen Chat hatte Alice bereits den Eindruck gehabt, einen klugen und kritischen Mann getroffen zu haben, der wusste was er wollte und wie er es bekommt. Warum hatte sie ihm damals eigentlich eine falsche Identität unterjubeln wollen? Wollte sie einfach nur ausprobieren, wie es sich anfühlte jemand anders zu sein? Oder war es ihre unterschwellige Angst gewesen und der Versuch die Kontrolle über die kommenden Geschehnisse zu behalten, indem sie sich durch das wackelige Lügenkonstrukt selbst derart einschränkte, dass sie ihm niemals real gegenübertreten könnte?
Die ersten virtuellen Unterhaltungen, die sie miteinander geführt hatten - nein, die er mit ihr geführt hatte, denn bei aller Höflichkeit und Eloquenz bestand von Anfang an kein Zweifel daran, wer den Ton angab- die ersten Unterhaltungen waren aber bereits derart vielversprechend gewesen, dass Alice es sehr schnell verflucht hatte, ihn angelogen zu haben. Sie hatte ihm dann bei der nächsten Gelegenheit gebeichtet, dass sie nicht die war, für die sie sich ausgegeben hatte und, weil sie sich so sehr geschämt hatte, schweren Herzens verkündet, dass sie ihren Account löschen würde und ihn nicht mehr belästigen würde. Sie war selbst nicht ganz sicher, warum sie Lügen genutzt hatte um ihre Identität zu verschleiern. Sie hätte einfach sagen können, dass sie zu manchen Dingen, die in solchen Chatgesprächen üblicherweise erfragt wurden, keine Auskunft geben wollte. Doch der Gedanke war ihr gar nicht gekommen. Zu dämlich von ihr. Vielleicht war es aber auch leichter gewesen als jemand ganz anderes aufzutreten, vielleicht war Alice einfach noch nicht in der Lage den Ausmaßen ihrer Submissivität ins Auge zu blicken und dort zu erkennen, wie weit sie tatsächlich zu gehen bereit war. Jemand anderes zu sein vergrößerte die Distanz zu sich selber immens und Alice hätte so manchen ihrer ungeliebten Anteile wohl ganz gern mal ausgeklammert. Nachdem sie sich entschlossen hatte, Damian diesbezüglich die Wahrheit zu sagen, war sie ganz sicher gewesen, dass er den Kontakt sofort abbrechen wollte und sie empfand fast Trost bei dem Gedanken, ihm hinsichtlich des Beendens ihres Kontaktes zuvorzukommen und ihm nach der Beichte nicht mehr unter die Augen treten zu müssen. Doch es war anders gekommen.
Er hatte sie überraschenderweise nicht weggeschickt sondern vermittelt, dass er nicht beeindruckt sei und sie angewiesen, das hysterische Theater, welches sie gerade veranstaltete zu unterlassen. Er hatte ihr angeboten, diese Angelegenheit nun zu den Akten zu legen und die Chats fortzuführen, vorausgesetzt sie würde den folgenden Bedingungen zustimmen: Erstens hätte sie ihn nicht mehr anzulügen, zweitens keine Wechselhaftigkeiten zu pflegen und drittens aus dem Chatkontakt mit ihm ausschließlich die positiven Dinge für sich herauszuziehen ohne dem schlechten Gewissen ihrem realen Leben gegenüber Raum zu geben. Etwas verwirrt, aber doch erleichtert und froh über dieses Angebot hatte sie zugestimmt.
Wieder unterbricht Alice. Inzwischen ist es spät geworden, sehr spät. Der Chatraum ist voll, doch Damian ist nicht unter den Gästen. Erneut ist sie versucht, eine Mail zu verfassen; erneut entscheidet sie sich dagegen. Sie schaltet ihren Laptop aus und geht traurig ins Bett.
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