Freitag, 9. November 2012
Nebelgasse (2)
Alice liegt bäuchlings auf dem Sofa, ihren Laptop offen vor sich stehend, und versucht sich zu sammeln. Einige Tage sind vergangen, seit sie ihren ersten Blogeintrag beendet hatte. Tage, die zunächst von tiefen Wolken der Angst und Traurigkeit überschattet waren, welche dann zögerlich einem bangen Hoffen gewichen waren um sich daraufhin ganz langsam in Erleichterung und Dankbarkeit zu verwandeln. Alice hatte Damian, nachdem sie viele Stunden umsonst im Chat auf ihn gelauert hatte, schließlich doch eine Mail gesendet, in der sie versucht hatte, sich zu erklären. Er hatte ihr tatsächlich geantwortet und sie für den Abend in den Chat bestellt. Natürlich war sie da gewesen, voller Angst davor, er käme einzig und allein um ihren Kontakt zu beenden. Doch dazu war es nicht gekommen. Er hatte sie reden lassen und dann einen Strich unter die Angelegenheit gezogen. Alice wusste nicht einmal, ob er ihr damit verziehen hatte. Aber ihre Erleichterung und Freude darüber, dass sie ihre Kontakte fortführen würden, hatten die Neugierde vorübergehend verdrängt.

Alice hält inne. Wie hatte er nur eine solche Bedeutung gewinnen können? Nicht, dass es sie stören würde, nein, nicht im Entferntesten. Nur, leicht zu verstehen war es auch nicht. Sie führte kein langweiliges Leben, war verheiratet, Mutter und hatte einen interessanten Beruf. Ihre Tage waren ausgefüllt. Dennoch, rückblickend kann sie sich inzwischen eingestehen, dass etwas gefehlt hatte. Sie konnte es wohl am besten mit dem Begriff "spirituelle Führung" bezeichnen. Alice lacht laut auf. Was für eine kitschige Bezeichnung. Naja, wenigstens war ihr nicht als erstes der Ausdruck "Esoguru" eingefallen, denn sonst wären Damian sicher als erstes Gerten oder Kochlöffel in Aktion eingefallen. Er distanzierte sich überdeutlich von allem, was sich selbst als Esoterik, Esoteriker oder esoterisch bezeichnete, denn, er hatte mit der einschlägigen Szene so rein gar nichts zu tun und sollte sie sich je wagen ihn dort auch nur ansatzweise einzuordnen begab sie sich auf sehr sehr dünnes Eis. Sie lacht in sich hinein und schreibt weiter.

Damian hatte ganz offenbar diese unleidliche Begebenheit ruhen lassen wollen, doch Alice war es schwer gefallen, loszulassen. Sie konnte einfach nicht begreifen, wie es hatte passieren können, dass sie ihn vergessen hatte. Seit Monaten chatteten sie nahezu täglich, und ausgerechnet dieses eine Mal war da diese Erinnerungslücke gewesen. Es war und blieb einfach absolut unverständlich. Da half es auch nicht, dass ihm inzwischen klar zu sein schien, was zu diesem Zwischenfall geführt hatte. Er hatte es ihr sogar zu erklären versucht. Wenn es einem zu gut gehe verliere man die Bodenhaftung. Das Leben sorge dann dafür, dass man wieder runter käme. Bodenhaftung also. Blieb die Frage wieviel Bodenhaftung sie jemals gehabt hatte, bevor sie sie verlor. Wie auch immer. Auch wenn sie diesmal nicht glaubte, dass seine Erklärung die Geschehnisse hinreichend beleuchtete, wollte sie es vorerst dabei bewenden lassen. Das fiel ihr nicht wirklich leicht, da sie ohnehin manche Themen schwer ziehen lassen konnte und diesmal auch das Gefühl nicht loswurde, dass ihr Versäumnis irgendeine übergeordnete Bedeutung haben könnte, die sich ihr einfach noch nicht erschloss. Aber vielleicht wusste er es ja einfach besser als sie.

Also hatten sie einfach auf dieselbe Weise weitergechattet, wie sie es schon seit Monaten taten. Damian hatte ihr zugesagt, ihr irgendwann zu erzählen, was er ihr eigentlich an dem besagten Abend hatte sagen wollen, doch sie würde noch eine Weile warten müssen. Natürlich platzte Alice fast vor Neugierde, doch ihr wär es nicht in den Sinn gekommen, in dieser Angelegenheit zu drängeln. Das war nicht immer so, ganz und gar nicht. Wie oft schon hatte sie ihn damit genervt, man kann fast sagen genötigt, etwas von seinem besonderen Wissen mit ihr zu teilen. Wie war es eigentlich genau dazu gekommen dass er ihr überhaupt etwas davon erzählt hatte? Anfänglich hatten ein paar Stichworte Alice aufhorchen lassen, doch Damian hatte ihre Nachfragen unmissverständlich abgewiesen. Das seien keine Themen für einen Chat, so etwas könne man eventuell irgendwann mal bei einem Glas Wein vor dem Kamin besprechen, falls es sich eines Tages so ergeben würde. Seltsam, mit anderen Informationen zu seiner Person war er doch sonst nicht so kleinlich. Im Gegenteil. Eigentlich hatte er immer recht bereitwillig aus seinem Leben erzählt.

Alice beendet für heute ihr Tun. Sie würde morgen weiter schreiben.

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