Donnerstag, 5. September 2013
Höhlenstern (14)
Aufgeregt beginnt Alice zu tippen. Damian war wirklich ein Magier! Er konnte so faszinierende Dinge! Vieles hatte sie schon erleben dürfen, aber das Ereignis, welches sie heute aufschreiben wollte, war ein ganz besonderes Phänomen.

Endlich, endlich hatte Damian zugestimmt. Lange hatte er rigoros abgelehnt. Dabei war Alices Idee wirklich gut gewesen. Doch er hatte ihr gesagt, dass sie gar nicht umsetzbar sei. Sie hatte aber nicht locker gelassen und ihn immer wieder zu überzeugen versucht und schließlich hatte er, zögerlich zwar, aber immerhin, eingeräumt, man könne einen Versuch wagen.

Alice hatte vor kurzem gelernt in ihre Unterwelt zu reisen. Damian konnte es sowieso. Dieser Raum in ihrem Unterbewussten, den man durch Trance besuchen konnte, war ein faszinierender Ort. Der Schamanismus nimmt drei Bewusstseinsebenen an: Die Oberwelt, die Mittelwelt und die Unterwelt. Bei Reisen in die Unterwelt erlebt man keine Phantasie- oder Traumreise, sondern tritt ins Unterbewusstsein ein, in eine parallel laufende Welt. Dort findet man Kraft, Einsichten und Impulse das eigene Leben zum positiven zu verändern.

Sicher konnte man auch einfach so zur Erholung und um sich wohlzufühlen hinuntergehen, also lag der Gedanke doch nahe, dass sie sich dort unten genausogut treffen könnten. Energetisch versteht sich. Im Grunde hatte Alice Damian zu sich eingeladen. Doch er hatte ihr zunächst erklärt, dass er ihre Unterwelt nicht betreten würde. Das sei einzig und allein ihr Bereich in dem niemand außer ihr etwas zu suchen hätte, selbst er nicht.

Alice hatte das nicht verstehen wollen. Er sollte schließlich nicht dort einziehen, sondern lediglich auf einen kurzen Besuch vorbeikommen, so dass sie ihn fühlen konnte, seine Energie genießen konnte. Was auch immer er für falsch daran hielt, er würde ihr gewiss nicht schaden, wenn er sich mal kurz bei ihr aufhielt. Da Damian ein solches energetisches Treffen aber immerhin nicht mehr kategorisch ausschloss, war sie schnell besänftigt, als er zu erklären begann, auf welche Weise es vielleicht doch möglich war.

Damian würde einen eigenen Raum installieren, der sich in ihrer beider Unterbewusstsein, nämlich zwischen seiner und ihrer Unterwelt befand und von beiden Seiten aus betretbar war. So könnte er von seiner Seite kommend durch seine Tür eintreten und sie dasselbe auf ihrer Seite tun. Die Tür des anderen sei aber in jedem Fall tabu und würde niemals vom anderen geöffnet oder gar durchschritten werden. Er selber stellte sich, wenn er mit ihrem Unterbewussten sprach, auch ausschließlich in die Nähe ihrer Tür und ging nicht hindurch, sondern kommunizierte von da aus, ohne ihren Bereich zu betreten. Sie würde auch niemals alleine in den Raum gehen, sondern ihn nur betreten, wenn sie beide dort verabredet waren.

Alice war mit allem einverstanden, wenn sie es nur versuchen würden. Ob er nun zu ihr kam oder sie sich "auf neutralem Boden" trafen sollte ihr gleich sein. Er hatte sie dann gebeten, den Raum in ihrer Fantasie einzurichten, eine Zeichnung anzufertigen, aus der die beiden Eingänge ersichtlich wurden und die Anordnung der Möbel. Sie sollte sich ganz bildlich vorstellen, wie es dort aussehen würde, es aufzeichnen und ihm vorlegen. Nach ein paar kleinen Veränderungen hatte Damian ihre Zeichnung abgesegnet und ihr Treffen vorbereitet.

Sie hatte sich riesig gefreut. Bestimmt würde es klappen! Bisher hatte doch alles funktioniert, was er mit ihr magisches veranstaltet hatte. Und sie wollte ihm so gern begegnen, dass es allein schon deshalb klappen musste. Sie war bereit.

Alice sollte wie gewohnt durch das Loch im Boden und die Steintreppe ihre Unterwelt aufsuchen und dort auf direktem Wege zum gemeinsamen Raum kommen. Sie hatte sich zwar gefragt wie sie ihn finden sollte, aber Damian war guter Dinge gewesen, dass das schon klappen würde. Und hatte mal wieder Recht behalten.

Als Alice ihre Unterwelt betrat, war dort ein Herbstwald. Der Boden war von weichem bunten Laub bedeckt. Der Wald war ganz offenbar der Weg zueinander, das Symbol in ihrem Herzen. Sie war dort unten dann einfach einem starken Sog gefolgt. Es war eine wirklich starke körperliche Empfindung gewesen, sie fühlte sich wie an einer Schnur herangezogen.

An ihrer Tür angekommen betrat sie den Raum und fühlte sofort sehr deutliche Vibrationen zwischen ihren Beinen. Sie hatte direkt den dringenden Wunsch, dies in einen Orgasmus umzuwandeln. Wow, das war intensiv! Doch schon fühlte sie sich umhüllt, eingefangen, fest umschlossen von Damians Energie; sie konnte diese Berührung buchstäblich physisch spüren. Es glich einem festen Mantel der eng um sie gelegt wurde. Das war ein unbeschreiblich angenehmes und wohltuendes Gefühl, so willkommen wie nur irgend denkbar. Er fühlte sich sooooooooo gut an...

Sie konnte die umfassenden Gefühle kaum sortieren, es war eine Mischung aus starker Erotik, Anziehung, Vertrautheit, liebevollem einander Zuwenden, das Gefühl, dort unten seine kleine Skalvin sein zu dürfen, vereint zu sein. Es war eine nicht in Worte zu fassende, absolut faszinierende Begegnung gewesen. So unbeschreiblich vereinigend, etwas in ihr wurde rund, etwas wurde ganz.

Alice kommen beim Schreiben die Tränen, sie ist so nachhaltig beeindruckt, dass sie ein Ventil braucht. Dennoch tippt sie weiter.

Das Ganze war seltsamerweise nicht überraschend für sie, es kam ihr beim Erleben ehr erwartet vor, wie ein logischer emotionaler nächster Schritt. Das nahm allerdings nichts von der Faszination, im Gegenteil. Es war so allumfassend und eindringlich, Damian so zu spüren, so zu begegnen. Natürlich hatte sie nicht wissen können, dass sie einmal einen Mann im energetischen Raum treffen würde, das ganze hocherotisch und extrem beeindruckend finden würde, aber Damian zu fühlen war so wie einen lange erwarteten sehr lieben Freund endlich wieder zu haben.

Irgendwann hatte sie den Raum und ihre Unterwelt wieder verlassen, denn Damian hatte ihr eine Zeitvorgabe gemacht, nach deren gefühltem Ablauf sie wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren und sich bei ihm im Chat melden sollte. Sie war erschreckend zittrig und durcheinander gewesen, regelrecht durchgewirbelt von dieser begeisternden Erfahrung.

Nachdem sie ihm ihre Erlebnisse geschildert hatte, hatte er ihr verraten, was er dort unten genau mit ihr angestellt hatte, und Alice hatte kaum glauben können wie deckungsgleich die Erlebnisse waren!

Damian hatte ebenfalls den gemeinsamen Raum betreten, Alice langsam an sich heran gezogen und sie auf seinen Schoß gesetzt, sie umarmt und geküsst. Dann hatte er sie vor sich auf die Knie gehen lassen, durch den Raum kriechen lassen, zu sich zurückkommen lassen und sie übers Bett gelegt. Dort hatte er sie angefasst, im Schritt, am Po, am ganzen Körper gestreichelt und sehr fest angefasst.

Danach hatte er Alice aufgeholfen. Dann hatte ihre Energie plötzlich Form angenommen; Alices Gestalt war als orangener dreidimensionaler Rauch erschienen, was selbst Damian mit seinen unzähligen magischen Erfahrungen als äußerst intensiv beschrieb.

Damian hatte Alice geküsst und sehr feste gehalten, um sie danach zu ihrer Tür zu führen.

Das einzige, was Alice an ihrer Begegnung mit Damian nicht gefallen hatte, war, dass sie viel zu kurz gewesen war. Wenns nach Alice gegangen wäre hätte sie noch Stunden da bei Damian bleiben können.

Trotzdem war sie selig, dass es überhaupt geklappt hatte. Ihm so zauberhaft nah sein zu können, ihn intensiv zu fühlen und diesen Raum dafür zu haben war einfach nur entzückend. Sie wusste auch nicht, wievielen Menschen so eine wunderbare Art der Begegnung überhaupt vergönnt war und schätzte sich sehr glücklich, das erlebt haben zu dürfen.

Nach gewöhnlichen Gesichtspunkten war er doch eigentlich sehr weit weg, hunderte Kilometer trennten sie. Doch sie hatte ihn im Raum so fühlen können, als ob er sie tatsächlich berührt, als ob er sie wahrhaftig umarmt hätte. Diese besondere Ebene der Wahrnehmung war ziemlich beglückend für Alice. Sie hatte sich so unendlich wohl gefühlt bei Damian.

Hinterher war sie allerdings brausig aufgewühlt. Die Begegnung selber war ganz sanft und fest gewesen, ihre Gefühle hinterher glichen ehr einem zerzausten, flatterigen Vögelchen, welches sich eben noch mitten im Tornado befunden hatte.

Berauschend. Berauschend war das richtige Wort für das Erlebnis, welches sie eingesaugt, gefesselt und dann, ordentlich durchgerüttelt, wieder ausgespuckt hatte.

Durchdrungen von zufriedener Dankbarkeit schließt Alice den Rechner.

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Dornenfessel (13)
Alice öffnet den Laptop. Seit ein paar Tagen schon sinnierte sie über die Frage, wer sie eigentlich genau war. Vor kurzem hatte jemand über Damian den Satz gesagt: "Wer sich längere Zeit mit Damian beschäftigt wird selten ohne Metarmorphose davonkommen." Das konnte sie nur bestätigen und hinzufügen, dass es eine besondere Gültigkeit besaß, wenn man, so wie Alice selbst, nahezu versessen darauf war sich zu entwickeln. Sie wusste zwar nicht so ganz genau wo sie überhaupt hinwollte, war aber laut Damian losgeprescht wie ein Windhund auf der Rennbahn. Auch wenn sie es in den vergangenen Monaten nie so empfunden hatte, sah Alice inzwischen ein, dass er Recht gehabt hatte. Es war wirklich einiges passiert.

Als sie ihm fast beiläufig davon erzählt hatte, dass sie sich seit kurzem ein wenig fremd vorkam, hatte ihn das aufhorchen lassen. Er hatte es ganz genau wissen wollen und war fast ein wenig ungehalten, weil er offenbar den Eindruck gehabt hatte, Alice wiegele ab, beschönige und spiele herunter. Er hatte zügige und ehrliche Antworten auf seine Fragen gefordert, die dann auch sogleich auf sie eingeprasselt waren.

Vor allem wollte er wissen, ob und inwieweit Alice sich als manipuliert empfand und ob sie vielleicht das Gefühl habe, dass ihr etwas Fremdes übergestülpt worden wäre. Außerdem interessierte ihn, ob sie sich vielleicht weniger selbst entwickelt hatte, als sich viel mehr lediglich eine neue Haltung aufgeschminkt habe.

So gut sie konnte hatte sie ihm Auskunft gegeben und dabei nicht wirklich verstanden, warum er das Ganze für so wichtig erachtete. Sie hatte argumentiert, dass es doch nicht allzu ungewöhnlich sei, sich mal langsamer und mal schneller zu entwickeln und dass man, wenn es denn mal etwas zügiger ging, vielleicht ein wenig Anpassungszeit brauchte um sich selbst wieder neu kennen zu lernen. Sie vermutete, dass ihr Kopf einfach nicht so schnell hinter ihrem Bauch herkam, wie es ihm lieb gewesen wäre. Aber das würde schon werden, da war sie sicher.

Beunruhigt war sie dadurch jedenfalls nicht. Außerdem gefielen ihr ja die meisten Veränderungen ausgesprochen gut. Sie überblickte zwar noch nicht alles, hatte wohl sogar manche Entwicklung bereits wieder vergessen oder gar nicht so deutlich wahrgenommen und glaubte demzufolge fast, es sei schon immer so gewesen.

Trotzdem hatte Damian entschieden, dass es vorerst weder Eingebungen noch Reisen in die Unterwelt für Alice geben würde. Sie und vor allem ihr Unterbewusstes hätten nun Pause bis sie sich wieder stabilisiert hätten. Na toll. Das war nun wirklich das Letzte was Alice wollte. Sie fühlte sich gar nicht instabil, sie war bloß dabei die neuen Anteile in sich kennen zu lernen. Es machte ihr weder Angst noch sonst irgendein ungutes Gefühl und sie wollte einfach weitermachen ohne das Tempo zu drosseln.

Damian hatte jedoch sehr deutlich gemacht, dass das was sie wollte gerade überhaupt nicht von Belang war und vehement ihre Zustimmung eingefordert, vorerst nicht in die Unterwelt zu reisen. Sie hatte ihm das zögernd zugesagt, und sich etwas darüber gewundert, dass sie sich dazu durchringen konnte. Offenbar schaffte sie es, sich auch dann seiner Führung zu überlassen, wenn ihr Richtung und Gangart die er einschlug so gar nicht gefielen.

Ein paar Chats später waren sie noch einmal auf dieses Thema zurückgekommen, natürlich, denn Alice wollte ja wieder reisen und einfach mit dem weitermachen was ihr im Moment verboten war. Aber auch Damian beschäftigte die Angelegenheit immer noch. Ganz offenbar sah er sich in großer Verantwortung und wollte dieser auch zu hundert Prozent gerecht werden und ganz sicher gehen, sie nicht versehentlich zu destabilisieren. Er hatte sich zwar nicht deutlich dazu geäußert, aber Alice hatte dennoch das Gefühl gehabt, dass sie ihm möglicherweise vermittelt hatte, das, was sie da seit Monaten miteinander machten habe nun negative Auswirkungen.

Himmel, das hatte sie nun wirklich nicht damit sagen wollen! Ganz im Gegenteil, sie fand die Gesamtentwicklung fantastisch! Er konnte doch nicht allen Ernstes so irritiert über ihre Äußerung sein, dass er verkannte, wie großartig das Alles war?

Dennoch hatte sie zugegeben, dass es sich für sie irgendwie richtig anfühlte, eine Weile Magie Magie sein zu lassen, sie aber andererseits darauf brannte anzuknüpfen und nicht zuviel Zeit verstreichen zu lassen, denn verarbeiten könne sie sicher demnächst noch genug. Im Grunde wollte sie jetzt erstmal weiter erleben. Er war aber unnachgiebig geblieben und hatte ihr mitgeteilt, dass sie noch warten müsse bis er ihr ausdrücklich erlaubte die Reisen wieder aufzunehmen.

Sie hätte sich in den Arsch beißen können, weil Damian sich nun einen Kopf machte, unnötig wie sie fand und die ganze Sache eine viel größere Bedeutung bekam als ihr Alices Ansicht nach zustand. Und sie hatte ihm genau das gesagt. "Ich könnte mich in den Arsch beißen, überhaupt davon erzählt zu haben." Unüberlegt hatte sie diesen Satz so dahingetippt. Und prompt die Quittung erhalten.

Damian war alles andere als erfreut über diesen Kommentar und hätte sie, wie er sagte, nur zu gern in greifbarer Nähe gehabt, um sie dafür zu strafen. Er hatte ihr, als sie mit den Eingebungen begonnen hatten, sehr deutlich gesagt, dass sie ihm jedes irritierende Gefühl sofort mitzuteilen hätte und auch nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen dies zu unterlassen mache ihn wild darauf, Alice rücklings über den Tisch zu binden und mit Klammern und Strom zu quälen.

Manchmal war Alice sehr froh weit weg zu sein und seine strenge Autorität ein wenig gefiltert zu erleben. Er war auch so deutlich genug gewesen und bestand darauf, dass sie die Dinge nicht auf die leichte Schulter nahm und vor allem erste Anzeichen eines sich eventuell gerade ankündigendens "zu schnell" oder "zu viel" ernst nahm und sich entsprechend verhielt. Hatte sie im Grunde ja auch. Sie hatte ihm doch erzählt was in ihr vorging. Und sie war sehr froh darüber.

Sie mochte sich nichtmal vorstellen, wie er reagiert hätte wenn sie ihm diese Informationen tatsächlich zunächst vorenthalten hätte. Außerdem traute sie ihm manchmal mehr als sich selbst. Ihr gefiel zwar die Zwangspause gerade so überhaupt nicht, aber wenn sie ganz ehrlich zu sich selber war tat es ihr trotzdem gut einmal alles Erlebte sacken zu lassen. Er hatte das nur mal wieder schneller gewusst. Und er hätte, gesetzt dem Fall sie wäre physisch bei ihm gewesen, nicht gezögert der Richtigkeit und Wichtigkeit seiner Einschätzung handfest Nachdruck zu verleihen. Seine Beschreibungen hatten ihr einen kleinen Einblick vermittelt und ihre überaktive Fantasie hatte dazu beigetragen, dass sie Grusel vor einem tatsächlichen Erlebnis dieser Art empfand.

Klammern machten bestimmt einen ganz ekelhaften Schmerz und Alice wollte an die möglichen Stellen, die er wählen würde nicht einmal denken. Ganz zu schweigen von Strom. Trotzdem sah sie ihn vor ihrem inneren Auge und war sich sehr sicher, wie die Situation ablaufen würde. Klammern rauf, böse gucken, zwei tadelnde Sätze, ein Versprechen ihrerseits, Klammern runter und gut wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht seine Art die Angelegenheit handzuhaben.

Nein, er würde das Ganze zelebrieren, sich Zeit lassen, den Moment auskosten und sie leiden lassen. Sie würde für ihre sorglose Unüberlegtheit und ihre leichtsinnige Haltung bezahlen und zukünftig genauer nachdenken und Risiken verantwortlicher abwägen. Damian würde mit ruhiger, aber sadistischer Hartnäckigkeit dafür sorgen, dass sie begriff, dessen war sie sich gewiss. Doch vorerst war sie sicher vor dieser Art von Behandlung. Dachte sie.

Am nächsten Tag hatte Damian das Thema nochmal ausgepackt und schon bei seiner Frage, wo Alice ihre Wäsche zum trocknen aufhänge, war ihr klar gewesen, was nun käme. Er hatte sie eine Holzklammer holen lassen, Holz, keinesfalls Plastik, darauf hatte er bestanden und Alice musste ihre rechte Brust frei machen. Ein dürftiger und alles andere als überzeugender Impuls des Widerstandes hatte sich schwächlich in ihr bemerkbar gemacht, war aber von der erschreckend gewaltigen Bereitschaft sich zu fügen weggefegt worden.

Soweit Alice sich erinnerte hatte sie nicht einmal den müden Versuch unternommen das Kommende abzuwehren und obwohl sie mit Schaudern und voller Argwohn dem bisher unbekannten Schmerz zu entrinnen hoffte hatte sie Damian nahezu widerspruchslos gehorcht.

Ein Funken Restverstand war zwischen der Fülle der Gefühle von Scham, Fügsamkeit und Erkennen aufgeglimmt und hatte ihr die Frage gestellt, was sie da eigentlich gerade machte. Alice hatte keine Zeit zu antworten, sie war damit beschäftigt Damians Anweisungen umzusetzen, was ihre Ratio umso absonderlicher fand. Dieser Teil von ihr hatte es sodann vorgezogen das Schauspiel von Außen zu betrachten und kopfschüttelnd auf die törichte Absurdität zu blicken, die sich ihm soeben darbot, es schenkte ihm ohnehin gerade niemand Gehör.

Alice hatte sich also voller Verlegenheit und zittrig die Holzklammer auf den äußeren rechten Brusthof geklemmt und mit großem Erstaunen festgestellt, dass der bissige, kneifende Schmerz den sie befürchtet hatte ausgeblieben war. Es tat nicht im Geringsten weh. Sie hatte aber keine Zeit dazu gehabt, ausgiebig über diesen Irrtum nachzudenken, denn Damian forderte Berichterstattung und befahl ihr unverzüglich, die Klammer nun direkt auf dem Nippel zu platzieren.

Getäuscht von der vorausgegangenen Erfahrung des ausgebliebenen Schmerzes gehorchte sie ohne zu zögern, ließ die Klammer zuschnappen und musste ein Aufjaulen unterdrücken. Ihgitt! Was für ein abscheulicher Schmerz! Sie beeilte sich Damian zu beschreiben was sie empfand und er erlaubte ihr dem Himmel sei Dank die Klammer direkt wieder abzunehmen und die Stelle zu massieren. Es zwickte und zwackte und Alice empfand eine Welle der Dankbarkeit darüber, dass Damian ihrem Leid so schnell ein Ende gemacht hatte. Diesmal.

War sie auch immer noch von Scham und Irritation vernebelt, wusste sie doch zweifellos, dass sie diesem Schmerz nicht zum letzten Mal begegnet war. Beschämt und verunsichert wartete sie darauf, dass ihr Verstand seinen angestammten Platz wieder einnahm und ihr dabei half, die Fassung zurückzugewinnen.

Das war keine Strafe gewesen. Es diente lediglich dazu, Damian ein erstes Bild darüber zu vermitteln, wie Alice diese Art von Schmerz empfand und verarbeitete. Und es diente dazu, kommende Erlebnisse ähnlicher Art einzuleiten. Unbekümmert hatte Damian ihr gesagt, dass normalerweise er derjenige sei, der die Klammern setze, da sie aber so weit weg sei, müsse sie nun eben selbst herhalten.

Unbekümmert war Alice ganz und gar nicht gewesen. Eine tiefe Irritation hatte sie ergriffen. Auch wenn sie nicht zum ersten Mal Damians Anweisungen umgesetzt hatte, diesmal hatte es ihr, nein, hatte sie sich selbst den Boden unter den Füßen weggezogen.
Ihr war nicht klar gewesen, wie fügsam sie sein konnte und sie wusste wirklich nicht ob ihr diese Fähigkeit gefiel. Den ganzen Nachmittag über hatte sie immer wieder daran denken müssen und sie hätte darauf gewettet, dass sie jedesmal zutiefst errötet war.

Diese Mischung aus Scham, Erregung, Hilflosigkeit und Dankbarkeit verwirrte sie zutiefst, und die Tatsache, dass zusätzliche Emotionen zwar Raum in ihr beanspruchten, sich aber nicht in erfassbarer Klarheit zu erkennen gaben, hatte sie taumeln lassen. Ihre mannigfaltigen und zum Teil gegensätzlichen Empfindungen waren für sie kaum sortierbar, geschweige denn analysierbar und hatten sich so sehr vermischt, dass Alice es vorerst aufgegeben hatte ein Verstehen erzwingen zu wollen.

Das Wechselbad der Gefühle hatte angedauert, bis Damian ein paar Worte dazu verloren hatte und ihr erklärt hatte, dass ihm ihre Folgsamkeit durchaus gefalle und ihr damit ein außerordentlich beruhigendes Gefühl von Angekommen sein und entkrampfter Stille geschenkt hatte.

Die Erkenntnis, dass genau das ihre Irritation eigentlich ins Heillose hätten steigern müssen, weil sie rundum zufrieden damit war, dass es ihm gefallen hatte und die Frage, ob sie selber diesen bereitwilligen Gehorsam an sich mochte vollständig verdrängt hatte, diese Erkenntnis hatte sie ersteinmal desinteressiert an sich vorbeiziehen lassen. Damit könnte sie sich ein anderes mal befassen.

Alice schließt ihren Laptop.

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Blütenfluss (12)
Alice lächelt als sie heute zu schreiben beginnt. Damian konnte wirklich tolle Dinge. Und noch toller war, dass er ihr eines davon gezeigt hatte. Er hatte sie dazu angeleitet in ihre eigene Unterwelt zu reisen. Zu Alice großem Entzücken waren ihr diese Reisen gelungen.

Damian hatte ihr genau erklärt, wie sie vorgehen musste. Zunächst sollte sie sich Trommelmusik besorgen, welche es ihr erleichtern würde einen Trancezustand zu erreichen. Dann sollte sie die Reise vorbereiten: Die Musik auflegen, alle Störquellen ausschalten, die Telefone abstellen z.B., sich eine Decke und ein Tuch zum abdunkeln der Augen besorgen. Außerdem sollte sie sich Stift und Papier zum aufschreiben ihrer Eindrücke zurecht legen, denn alles, was sie gegebenfalls während ihrer Reise wahrnehmen würde, verschwand ganz schnell, sobald man die Trance verlassen hatte.

Um es vor dem Vergessen zu bewahren musste man alles direkt notieren, sofort wenn man aus der Trance wieder erwacht war. Sonst verflüchtigten sich die Informationen ebenso schnell wie nächtliche Träume es tun. Ganz wichtig war, dass sie sich beim Zurückkommen aus der Trance selbst instruierte, gleich wieder vollständig im Hier und Jetzt zu sein, körperlich fit und geistig hellwach. Alice sollte die Welten deutlich voneinander trennen, überwiegend und vor allem vollständig in der materiellen Welt sein und nur gelegentliche kurze Ausflüge in die Unterwelt machen.

Hinein finden in ihre Unterwelt würde sie durch ein vorgestelltes Loch im Boden, welches in eine lange Treppe mündete die sie direkt nach unten zum Eingangstor führte. Wenn sie vollkommen entspannt und ganz tief in sich bei diesem Eingang angekommen war, sollte sie hindurchtreten, sehen, welche Landschaft sich ihr eventuell zeigen würde und dort in Gedanken herumspazieren und einfach darauf warten, wer oder was ihr begegnete. Natürlich könne sie auch eine Frage mit hinunter nehmen, z.B. ob jemand eine Nachricht für sie habe.

Dann sollte sie einfach abwarten ob und welche Bilder, Gedanken und Gefühle für sie bereit waren. Sie durfte alles zulassen was kommen sollte, es sich ansehen und hinfühlen. Die Bilder, die sich ihr zeigen mochten, würden vermutlich schattenhaft oder verschwommen sein, vielleicht würde sie Farben sehen, vielleicht aber auch nicht und die Sinneseindrücke dort unten wären ganz sicher anders, als die, welche sie aus der hiesigen Welt kannte. Alles, was sich ihr darbieten würde sollte sie als bewusste Erinnerung mit nach oben ins Hier und Jetzt nehmen, sobald sie das Gefühl hatte, dass sie die Unterwelt verlassen wollte.

Alice erinnert sich genau wie sehr sich auf diese Reisen gefreut hatte. Sie war unglaublich neugierig gewesen, was sie dort unten erwarten würde. Allerdings konnte sie sich von einem gewissen Leistungsgedanken nicht ganz freisprechen. Sie bewunderte Damian für all die Magie die er beherrschte und wollte unbedingt auch etwas davon können oder lernen. Damian hatte ihr zwar vermittelt, sie solle ganz frei und gelöst und ohne spezielle Erwartungen an die Sache herangehen; trotzdem war es ihr ziemlich wichtig, ein paar interessante Eindrücke von ihrer Reise mitzubringen.

Voller Vorfreude hatte sie also Damians Anweisungen befolgt, alle Vorbereitungen getroffen und hatte begonnen. Sehr deutlich konnte sie vor ihrem inneren Auge das Loch im Boden sehen, durch das sie hineingelangen würde. Es befand sich in ihrer Vorstellung an einer bestimmten, auch real existenten Stelle im Wald und bei der Fantasie hineinzusteigen und die Treppe zu betreten hatte sie ganz deutlich das Erdreich sehen und den angenehmen Duft feuchter Erde riechen können. Auch die verästelten, knorrigen und zu immer dünner werdenden Fäden der Wurzeln der umstehenden Bäume hatte sie klar gesehen.

Sie war eine lange Steintreppe hinunter gegangen. Sehr lang. Denn schließlich sollte sie dadurch in Trance kommen. Als sie das Gefühl hatte, völlig entspannt zu sein, hatte sie eine Holztür gesehen. Dahinter schimmerte es himmelblau. Himmelblau und wolkig weiß. Sie war durch die Tür gegangen und von einer angenehm warmen und dichten Athmosphäre empfangen worden. Sie hatte die Stimmung dort sofort geliebt. Geborgenheit, Ruhe und warmes Eingehülltsein hatten sie erfasst.

Und dann, ja dann war ihr tatsächlich etwas begegnet. Während der Reise in die Unterwelt, war sie sehr ruhig und fast sachlich gewesen, außer einem ausgeprägten Wohlgefühl hatte sich kaum eine Emotion den Weg in ihr Bewusstsein gesucht.

Offen und interessiert hatte sie alle Eindrücke aufgenommen, mit stiller Zufriedenheit darüber, dass es tatsächlich etwas zu sehen und erleben gab. Alice blickt auf. Soll sie das tatsächlich alles verschriftlichen? All diese so persönlichen Dinge und Begegnungen? Nein, sie entscheidet sich dagegen. Das würde ihr privates Geheimnis bleiben. Naja, nicht ganz, denn Damian hatte sie natürlich davon erzählt, nachdem sie aus der Trance erwacht war.

Sie hatte sich unbeschreiblich entspannt und wohl gefühlt, ganz ruhig und ausgeglichen. Tiefe Zufriedenheit hatte sie ausgefüllt. Der Wunsch eine solche Reise zu wiederholen hatte allerdings bereits angeklopft.

Damian hatte dann alles mit ihr besprochen und sie geschickt durch die Interpretation des Gesehenen geführt. Er hatte ihr außerdem erklärt, dass es zwei Arten gab die Unterwelt aufzusuchen. Die eine diente dem Abholen von Informationen, so wie sie es eben getan hatte. Es war aber auch möglich hinunter zu gehen um sich zu entspannen und zu sich zu kommen. Dabei dürfte man dann Eindrücke die sich darboten einfach ignorieren, sich entspannen, ein bisschen umherspazieren oder auch gerne einfach einschlafen. Das würde ihr, mit ihren immer mal wieder auftretenden Schlafschwierigkeiten sicher sehr zugute kommen.

Ein oder zweimal hatten sie das Ganze wiederholt, mit immer neuen Eindrücken, Erlebnissen und Erkenntnissen für Alice. Sie war begeistert. Am liebsten wäre sie nun jeden Tag in ihre Unterwelt gereist um dort Informationen zu bekommen und Neuigkeiten zu erfahren. Da sie aber noch ein bisschen unbeholfen war, was deren Interpretation anging, benötigte sie Damians Hilfe, denn sonst wäre der Erkenntnisgewinn ziemlich dünn. Er teilte ihre Begeisterung ohnehin nicht. Im Gegenteil, er wollte nicht, dass das Reisen zu einer Art Droge verkam, von der sie immerzu mehr und noch mehr konsumierte.

Er hatte ihr das Ganze sicher nicht gezeigt, um ihr Futter für ihre Sucht nach Trance zu bieten. Sie durfte gern zum Einschlafen hinuntergehen, denn im Schlaf ging jeder Mensch eh genau dort hin, aber andere Reisen würden sie gemeinsam und wohldosiert machen.

Alice grummelte etwas. Dieser Typ hatte wirklich irgendwie überall seine Finger im Spiel und im Zweifel, so wie jetzt auch, den Daumen drauf. Was würde es schon schaden einfach ein wenig öfter hinunter zu gehen? Nicht, dass sie noch eine Information verpasste. Schließlich hatte sie jahrelang, achwas, jahrzehntelang nicht eine einzige Reise dieser Art unternommen. Dann war es doch jetzt verständlich wenn sie ein bisschen nachholen wollte.

Er fand aber, dass sie es langsam angehen lassen sollte. Vor allem sollte sie mal innehalten und zur Kenntnis nehmen, was da gerade alles mit ihr passierte. Sich daran erfreuen, ohne direkt zur nächsten Attraktion zu hetzen. Es war ja auch nicht so, dass er Unrecht hatte, aber sie wollte schon wirklich dringend wieder reisen. Außerdem, manchmal verschluckte sie sich regelrecht an den vielen "Damian findet", "Damian sagt" und "Damian will" in ihrem Kopf. Es war schon fast eine Selbstverständlichkeit geworden, entweder in Gedanken oder auch tatsächlich seine Einschätzung irgendeiner Sache anzuhören und sich daran zu orientieren. Fast erschreckte es sie.

Vielleicht wäre es an der Zeit, mal bewusst das Gegenteil zu tun. Schon allein um ein Gegengewicht zu schaffen. Trotzig hatte sie überlegt, einfach heimlich zu reisen. Aber sie hatte sich doch schnell dagegen entschieden. Sie fand es sehr undankbar, das zu tun und sie hatte auch ein bisschen Schiss, wie Damian damit umgehen würde. Freudensprünge würde er sicher nicht machen. Nein, sie würde sich gedulden und an dem erfreuen, was sie bisher hatte erleben dürfen. Und einfach ab und zu mal vorsichtig nachfragen, ob sie nicht doch noch einmal reisen könnte, falls er nicht schnell genug von sich aus darauf käme. Halbwegs zufrieden mit dieser Entscheidung hatte sie das Thema vorerst ruhen lassen.

Alice schließt den Rechner.

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Rabendunkel (11)
Fast hektisch beginnt Alice heute das Schreiben. Sie hofft sehr, nichts vergessen zu haben. Ein faszinierender Chat! Damian hatte wider Erwarten doch noch einmal das Helferthema angesprochen. Helfer, die ihn und sie und überhaupt alle Menschen auf ihrer Reise durch das Leben begleiten, schützen und unterstützen.

Ursprünglich hatte er ihren drängenden Nachfragen nicht nachgeben wollen, aber sich dann ganz offensichtlich doch umentschieden. "Es sollte heute sein." Das waren seine Worte, gegen Ende des Chats und mussten ihr vorerst als Erklärung genügen. Begonnen hatte er mit einem spannenden Vortrag, den er, wie so oft, mit einem viel versprechenden "Pass auf." eingeleitet hatte. Irgendwie war an Damian doch ein Professor verloren gegangen. Alice lächelt während sie tippt.

"Es gibt verschiedene Helfer an deiner, an unser aller Seite. Zunächst mal ist da dein Engel. Er/Sie ist in Kontakt mit deinem Unterbewussten und greift nur in absoluten Ausnahmefällen in dein Bewusstsein ein. Engel sind die Helfer, die unegoistisch handeln und sie sind daran interessiert, dass die Menschen mit ihnen kooperieren." Alice war natürlich sehr neugierig und hatte ein paar erste Fragen zu seinem und zu ihrem Engel und zu Engeln im Allgemeinen gestellt. Damian wollte aber offensichtlich auf etwas anderes hinaus, das merkte sie überdeutlich an seinen nur knappen Antworten. Na schön, sie hatte die Engel also vorübergehend zur Seite geschoben und weiter mitgelesen.

Alice stoppt kurz das Schreiben und fragt sich, wieso ihr das alles eigentlich nicht viel unwirklicher und unglaublicher erscheint. Vermutlich, weil es stimmte. Sie hatte bisher kein einziges Mal das Gefühl gehabt, mit Damian einen irrsinnig überspannten Exzentriker mit Hang zur Esoterik vor sich zu haben, der sie nur für seine mehr oder weniger dogmatischen Lehren gewinnen wollte. Im Gegenteil. Seine Ausführungen schienen ihr folgerichtig, und die Selbstverständlichkeit mit der er beschreibende und erklärende Worte fand, traf auf ihre Gewissheit, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die sich den gängigen Erklärungsansätzen entzogen. Auf ihre Gewissheit und ihr Vertrauen, dass es so schon richtig war. Sie tippt weiter.

Damian hatte ihr weiterhin erklärt, dass es noch andere Wesenheiten gab, oft deutlich weniger uneigennützig als die Engel.

Auch Ahnen konnten die Helferrolle übernehmen. Alice hätte vor Wissbegier in die Tastatur beißen können. Welche Oma, welcher Uropa begleitete sie wohl? Und was hatte der- oder diejenige schon alles angestellt um sie zu unterstützen? Welches Ziel verfolgte er oder sie? Hatte sie davon vielleicht sogar schon mal etwas bemerkt? Würde sie sich daran erinnern? Doch auch das war nicht das Thema, welches Damian für den gestrigen Chat vorgesehen hatte.

Erneut hatte sie sich gezwungen ihre Fragen zurückzustellen und sich wieder in den Gesprächsverlauf hineingleiten lassen, den Damian im Sinn gehabt hatte. Weder Engel noch Ahnen waren heute dran. Stattdessen wollte Damian auf etwas hinaus, dass er ihr Krafttier nannte. Das sagte ihr leider so rein gar nichts und er verdeutlichte ihr, dass manche Wesenheiten Begleiter in symbolischer Gestalt eines Tieres waren, welches mit seinen besonderen Eigenschaften den individuellen Lebensweg unterstützen konnte. Er bot ihr an, sie zu einer so genannten Krafttierreise anzuleiten oder alternativ selbst hineinzusehen. Etwas klopfe ohnehin bei ihm an und wolle angesehen werden.

Wow! Wow, wow, wow! Die freudige Aufregung, die in ihr aufgeschäumt war, macht sich während des Schreibens wieder in ihr breit. Sie hatte sich nicht entscheiden können. Klar wollte sie das gerne selber erleben, eine solche Reise unternehmen und sehen was da geschieht. Doch das würde, so wie Damian ihr sagte, Zeit, Ruhe und Konzentration erfordern. Zeit und Ruhe waren leider rar und außerdem würde sie dann noch auf die passende Gelegenheit warten müssen.

Sollte er also reinsehen? Ja, das wär toll, denn er wusste wie es geht und würde ganz sicher das Wesentliche erkennen. Überschaute sie denn schon so genau, ob sie sich nicht vielleicht in ihrem Inneren verlaufen würde, wenn sie es allein versuchte? Oder ob ihr Tier sich ihr überhaupt zeigen, ihr etwas verraten würde?

Und dennoch zögerte sie, Damian zu bitten es für sie zu tun. Seine Fähigkeiten für sich in Anspruch zu nehmen fiel ihr nicht sehr leicht, selbst wenn er es von sich aus angeboten hatte. Sie wusste ja, dass er diese magischen Themen am liebsten ausschließlich mit sich allein ausmachte und nur sehr ungern darüber sprach. Umso dankbarer war sie, dass er sie dennoch immer wieder teilhaben ließ, ihr erklärte und sie irgendwie auch an die Hand genommen hatte und führte.

Sie fühlte sich sicher da an seiner Hand, sicher und gut aufgehoben. Manchmal ließ er sie rennen, vorpreschen und blieb an ihrer Seite, manchmal hielt er sie zurück, bremste sie oder führte sie an Versuchungen vorbei, die ihr vermutlich nichts Gutes gebracht hätten, wäre sie ihnen erlegen. Manchmal zog er sie auch hinter sich her und sorgte für Beschleunigung und Tempo. Aber meistens war er einfach in ihrem Tempo neben ihr und gab ihr Halt und Vertrauen. Was für eine unglaubliche und doch so erwartete Begegnung...

"So, ich seh jetzt nach. Ich gehe jetzt in Trance und bin in zehn Minuten wieder hier." Mit dieser Entscheidung riss Damian Alice aus ihren sinnierenden Gedanken und verschwand vom Bildschirm. Ihre Aufregung wechselte sich mit ihrer Begeisterung und ihrer Ungeduld ab, um schließlich in Vorfreude umzuschlagen und sie an den Laptop zu fesseln.

Zum Glück war er schnell wieder da und begann auch sofort ihr von dem Raben zu erzählen, der ihm begegnet war. Ein Rabe also? Ein Totenvogel? Na wunderbar. Schon wollte die Angst, von der sie sich kürzlich erst verabschiedet hatte, wieder ihren angestammten Platz einnehmen. Doch Alice schubste sie weg. Sie brauchte Platz für das Neue, was bald kommen würde. Als hätte er's mal wieder geahnt fragte Damian nach. Vielleicht tat er das auch immer an dieser Stelle, wenn er in eine solche Krafttierbegegnung involviert war. Was verbindet man mit dem Tier, das einen begleiten und weiterbringen wollte? Was genau verband sie damit?

Na, an erster Stelle diese wohl anerzogene Angst vor einem Symbol des Todes, einem vermeintlich schlechten Omen. Aber auch wunderschönes glänzend schwarzes Gefieder und die Tatsache, dass Raben als Gefährten von Kindern vorkamen, sowohl in Geschichten als auch in der Realität. Ebenso begleiteten sie Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Alles in Allem war der Rabe also vielleicht doch ein spannendes Tier. Das, was Damian dann noch dazu zu sagen hatte zementierte diesen Eindruck:

Der Rabe, der sich Damian gezeigt hatte, trug ein blaues Energieband und einen Fisch mit sich. Das Band ist mit Noten und/oder Buchstaben beschriftet. Ihr Rabe steht für Intuition und Kreativität, Eigenschaften, die auch Alice innewohnen und er kann ihr helfen zu lernen, diese Eigenschaften stärker zu leben und zu nutzen und mit den damit verbundenen Erfolgen, den Früchten dieser Fähigkeiten umzugehen. Faszinierend!

Alice hatte zweierlei Assoziationen: Zum einen erinnerte sie dieser gestrige Chat sehr deutlich an den Verlauf einer Geburt. Ja, manchmal war das Chatten mit Damian genau so, wie ein Kind zu gebären. Man fand zusammen in dem Gefühl dass demnächst etwas Angekündigtes, etwas Großes passieren würde, dass etwas Neues seinen Weg von anderswo in die hiesige Welt finden würde. Man traf alle Vorbereitungen dafür und erwartete es bis es sich schließlich durch die Gespräche wie durch einen Geburtskanal hindurchgewunden hatte, manchmal stieß man es ein bisschen von außen an, oder zog, um ihm auf den Weg zu helfen. Und dann bestaunte und begrüßte man es gemeinsam und freute sich auf all die Erlebnisse und Veränderungen die es im Gepäck hatte.

Zum anderen kam es ihr vor, als haben viele kleine Dinge schon auf die Begegnung mit ihrem Raben und seinen Anliegen hingedeutet und sie vorbereitet. Die Auseinandersetzung mit sich selber, ihrer hiesigen, irdischen Persönlichkeit, ihren ureigenen Schwächen und Schatten, ihrer Angst, die Entscheidung, die Angst nun endlich soweit loszulassen, dass sie nicht mehr blockieren, nicht mehr hindern kann, die Arbeit daran, sich vollständiger als das zu akzeptieren, was sie wirklich ist, in ihrem tiefsten Inneren, sich mit sich selber auszusöhnen und stärker anzufreunden, Energien in sich zu finden und diese sich selbst und auch anderen zur Verfügung zu stellen... Da sie darüber nachdachte fielen ihr unzählige Situationen ein in denen der aktuelle Moment vorbereitet worden war, unzählige manchmal sehr klein, aber niemals unwichtig erscheinende Begebenheiten, die alle mit diesem Augenblick verbunden waren.

Damian hatte ihr einen Text über die Botschaft des Raben gesendet. Dort hieß es unter anderem:
In dir steckt eine starke Magie. Du besitzt heilende und hellseherische Gaben. Du hast sie noch nicht vollständig erkennen können, weil du die Vergangenheit noch nicht von dir gelöst hast. Du hängst in deiner geistig-spirituellen Entwicklung fest, die jetzt immer mehr zum Vorschein kommt. Lasse die Träume, die Gedanken und die Gefühle in dir zu, sie geben dir Botschaften und Hinweise. Erkenne deine jetzige Situation und sehe die Zukunft nicht durch ein schwarzes Tuch vor dir. Öffne den Vorhang in dir, der dich das "sehen" lässt, was anderen verborgen bleibt. Nimm dich an, so, wie Du bist und versuche nicht etwas zu verdrängen, aus angst im Abseits zu stehen. Du bist deine eigene innewohnende Kraft, die dich antreibt, aber nur, wenn du deine Ängste beiseite schiebst. Setze deine Kräfte zum Wohle aller ein, denn sie können ein Bumerang sein und zu dir zurückkehren. Missbrauche deine Energie nicht, um anderen zu schaden. Der Rabe sagt dir, dass Du Geheimnisse besser hüten sollst. Der Rabe, als der Hüter des Geheimnisvollen, möchte, dass Du dich deiner eigenen Geheimnisse besinnst, aber auch offen dafür bist, wenn Du in dir selbst das Geheimnisvolle entdeckst. Solltest Du deine Magie missbrauchen oder respektlos einsetzen, so werden die Hüter der Geheimnisse dich bis in deine Träume verfolgen.

Ja, sie fühlte sich deutlich angesprochen von diesen Zeilen. Über eines war sie beim Lesen allerdings gestolpert. Sie solle Geheimnisse besser hüten. Was das wohl bedeutete? Sie hielt sich eigentlich nicht für besonders schwatzhaft und Dinge, die ihr im Vertrauen erzählt wurden, waren bei ihr gut aufgehoben. Aber vielleicht ging es auch vor allem um ihre eigenen Geheimnisse. Im Grunde war diese beispiellose und märchenhafte Chatbeziehung ein einziges großes Geheimnis. Nur sehr wenig davon durfte sie nach Außen dringen lassen. Und das auch nur punktuell, herausgerissen aus dem großem Ganzen.

Irgendwann, in einem der unzähligen früheren Chats, hatte Damian einmal so etwas gesagt wie, dass sie nun so weit wäre, dass sie dieser besonderen Verantwortung des zusätzlichen Wissens und der zusätzlichen Freiheiten gewachsen sei. Sie hoffte sehr, dass er damit Recht hatte. Nachdenklich beendet sie ihr Schreiben und geht schlafen.

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Schmerzlust (10)
Mit mulmigem Gefühl startet Alice heute ihren Rechner. Sie wollte endlich verschriftlichen, welche gefürchtete Rechnung zwischen Damian und ihr noch offen war.

Zu Beginn ihrer Chats hatte Alice Damian zunächst hinsichtlich ihrer Identität belogen und war mehr als überrascht gewesen, dass er, als er davon erfuhr, kein großes Aufhebens darum gemacht hatte. Abgesehen von der Vereinbarung ihm ab sofort die Wahrheit zu sagen und dem Aufklären aller bisherigen Unwahrheiten hatte er das Thema zügig vom Tisch geräumt.

Das Aufklären aller bisherigen Unwahrheiten... Unwohl erinnert Alice sich daran, dass sie das Meiste zwar tatsächlich gerade gerückt hatte, in einer Sache aber an der Lüge festgehalten hatte. Obwohl Damian sie mehrfach gefragt hatte -unglaublich, wie er die verbliebene Lüge erahnt hatte- war sie bei dem falschen Vornamen geblieben, den sie ihm aufgetischt hatte.

Viele Wochen später waren sie aus Gründen, die Alice heute nicht mehr erinnerte, noch einmal auf diese Frage nach ihrem Vornamen zurückgekommen. Und dieses Mal hatte Alice die Lüge aufgeklärt, voller Angst, dass ihr Kontakt damit nun beendet sei. Damian war wirklich ziemlich sauer gewesen und hatte sie das auch deutlich spüren lassen.

Mit einem Alice nicht enden scheinenden Wechsel zwischen verhörenden, bohrenden Nachfragen und scharfen Zurechtweisungen hatte Damian sie heftig runtergeputzt. Nichts von dem was sie angeführt hatte konnte seine Wut mildern. Wie gern hätte sie diesen Fehler ungeschehen gemacht. Aber so sehr sie das auch beteuerte, Damian war mehr als verärgert. Sie hatte sich grauenvoll gefühlt. Winzig zusammengestaucht; es fühlte sich abscheulich an.

Das schlimmste für Alice war allerdings die Tatsache, dass er sich, nachdem er seinem Ärger Luft gemacht hatte, zurückgezogen hatte. Sie hatte nicht gewusst, wann oder ob überhaupt wieder ein Kontakt stattfinden würde. Diese Art von Verbindungsabriss machte sie buchstäblich krank.

Sie beginnt zu frieren, während sie diese Erinnerung verschriftlicht.

Mit unbeschreiblicher Erleichterung hatte sie dann aber erlebt, dass er doch wieder mit ihr gechattet hatte. Zwar hatte er sie zunächst ein zweites Mal durch die Mühle gedreht und ihr mit harschen Fragen und einschneidenden Bemerkungen zugesetzt, aber schließlich ihre Unterhaltungen fortgeführt. Und unterhalten hatte er sich ganz sicher, als er ihr verkündet hatte, dass er sie für diese dreiste Lüge bestrafen würde.

Alice wird flau im Magen als sie daran zurückdenkt. Er hatte sie raten lassen, auf welche Weise sie dafür bezahlen würde. Himmel, war das demütigend. Wenigstens konnte er sie nicht sehen, aber auch so war es schlimm genug sich selber ausmalen zu müssen, welche Strafe sie wohl erwartete. Ganz zu schweigen davon, wie sehr sie sich überwinden musste ihre Ideen dazu in Worte zu fassen.

Einerseits wünschte sie sich, diese unleidliche Lüge mit einer Bestrafung aus der Welt schaffen zu können, andererseits fand sie es beschämend, die Details dazu erfragen zu müssen. Sie war auch nicht sicher, ob sie das alles überhaupt vorher wissen wollte. Garantiert würden die Gedanken daran sie nicht mehr loslassen. Nun, das half ihr auch nichts. Sie sollte es wissen, und bestimmt amüsierte er sich königlich bei der Vorstellung, dass sie dieses Wissen in Gedanken nun zäh von links nach rechts schob ohne es zerkauen oder beiseite legen zu können.

Die Erleichterung darüber, dass er sie strafen und nicht aussortieren würde überwog zwar deutlich, dennoch hasste sie diese Behandlung jetzt schon. Sie wand sich innerlich und gleichzeitig überschlugen sich die Bilder möglicher Strafen in ihrem Kopf. Mit Überwindung hatte sie dann begonnen, seine Pläne zu erfragen, nur um mit Schrecken festzustellen, dass der Gedanke an diese Strafe sie tatsächlich nicht mehr loslassen würde. Sie würde sich von schraubstockartigen Klauen umklammert fühlen, die sie erbarmungslos zwangen, sich immer und immer wieder den Ablauf der Bestrafung auszumalen.

Er würde sie für die Namenslüge über einen Bock fesseln und mit dem Stock schlagen. Sogar die Anzahl der Schläge hatte er schon festgelegt. Unfassbare zwanzig Schläge sollten es werden. Alice durfte gar nicht daran denken. Er hatte ihr schließlich ziemlich detailliert beschrieben wie die Strafe ablaufen würde. Sie sah sich schon Rotz und Wasser heulen vor Peinlichkeit, Schmerz, Schuldegefühlen und Aufregung. Sie hatte auch ziemliche Angst vor dem Stock.

Wie sehr würde es weh tun? Damian war sicher nicht zimperlich. Sie dagegen schon. Mist, Mist, Mist. Elender Mist. Sie versuchte sich zu beruhigen. Er war kein hemmungsloser Frauenverdrescher, der ohne Sinn und Verstand und ohne Rücksicht auf Verluste zuschlagen würde. War also alles gut. Alles gut? Sie lachte hysterisch auf. Er wollte sie strafen, nicht streicheln. Und er würde ihr weh tun. Das war Sinn der Sache. Er würde sie zwar dosiert und gezielt schlagen, aber es würde weh tun. Der Stock tut nun einmal weh, wenn er ihr damit nicht gerade eine Liebeserklärung auf den Allerwertesten schrieb. Verdammt. Garantiert würde sie flennen.

Wie gern hätte sie in der Situation ein Taschentuch... Die Vorstellung, hilflos und mit Rotznase über dem Bock liegen zu müssen und sich nichtmal die Nase putzen zu können erfüllte sie mit Scham. Was für eine peinliche Situation... Und gleichzeitig so trostlos... Unvorstellbar, eigentlich, aber ihr verfluchtes Hirn konnte nicht damit aufhören ihr Bilder davon zu senden. Sie hatte verbissen versucht, Damian zu überreden ihr das Taschentuch zuzugestehen, und nach langem und mühevollem Verhandeln sogar kurz das Gefühl gehabt er würde weich und ihrer Bitte zustimmen. Doch da hatte sie sich wohl getäuscht, denn Damian hatte es sich offen gehalten, ob er ihr das gewünschte Taschentuch gewähren würde.

Na toll, er lag ja auch nicht da und tropfte unkontrolliert vor sich hin! Was stellte der sich so an wegen eines simplen Taschentuches? Jeder normale Mensch putzte sich die Nase wenn dies nötig war, und genau so wollte sie das auch halten! Meistens himmelte Alice Damian an, aber es gab Momente, in denen sie ganz sicher war, dass sie ihn bald auch leidenschaftlich hassen würde!

Gleichzeitig griff erneut Angst nach ihr. Wie sehr würden diese Schläge schmerzen? Würde sie überhaupt zwanzig von ihnen aushalten können?

Achja, verdammt, auch das noch! Wie hatte sie das nur vergessen können? Zu allem Übel würde sie, während Damian sie schlug, seinen Schlüsselbund festhalten müssen. Sie hatten lange darüber diskutiert, obwohl die Tatsache, dass sie das blöde Ding festhalten würde, im Grunde nie wirklich zur Debatte stand. Er bestand darauf, dass sie diesen Gegenstand in der Hand behalten würde, um ihn im Notfall fallen lassen und damit die Situation abbrechen zu können.

Das war ja grundsätzlich auch richtig und wichtig. Falls sie tatsächlich aus der Situation aussteigen wollte, musste das möglich sein. Sie hatte der Strafe und dem Schmerz im Vorfeld zwar freiwillig zugestimmt, aber niemand konnte wissen, ob die Qual nicht doch zu groß würde und sie stoppen wollte. Dazu sollte der Schlüssel dienen. Sobald sie ihn loslassen würde, würde Damian die Strafe abbrechen.

Alice war noch nie besondere Freundin des in BDSM-Kreisen vielgerühmten Safeworts gewesen. Mal abgesehen davon, dass es ihr eine Macht gab, die sie in der Situation nicht wirklich haben wollte, war sie der festen Überzeugung, dass Probleme in einer Session auch ohne dieses Konstrukt kommunizierbar seien. Und die angebliche Notwendigkeit eines Schlüssels wollte sie erst recht nicht begreifen. Wenn wirklich etwas eintreten würde, was einen Abbruch ihrerseits erforderlich machte könnte sie das doch sagen?

"Mir wird schlecht" oder "Ich hab einen Krampf im kleinen Zeh" sprach man doch von ganz alleine aus? Ein Safewort konnte sie ja fast noch verstehen, falls die Schläge mal wirklich unerträglich würden. Aber auch da dachte sie im Grunde, das sei an Tonfall und Wortwahl deutlich ablesbar. Er dachte anders.

Er sah das ganze einerseits als Schutz für sie, aber auch als den Teil, an dem sie Verantwortung für sich selbst übernahm. Also würde es genau so laufen wie er angekündigt hatte, sie würde das vermaledeite Teil umklammern; und zwar nicht zuletzt aus dem Grund, dass sie die Vorstellung einen Schlüssel festhalten zu müssen so hasste.

Im Grunde wäre auch kein Sicherheitsgegenstand wie der Schlüssel nötig gewesen. Den benutzte man eigentlich nur dann als Alternative zum Safewort, wenn ein Knebel oder ähnliches das Sprechen unmöglich machte. Aber da sie sich so vehement gegen seinen Einsatz gewehrt hatte würde sie ihn nun definitiv halten müssen, auch wenn eigentlich kein Knebel vorgesehen war.

Was für ein Arschloch! Als ob die Situation nicht schon ätzend genug für sie werden würde! Was, wenn sie das Ding versehentlich aus der Hand verlor?
Würde er das auch bestrafen? Zusätzlich? Wie lange würde das Ganze dauern? Wenn er auch nur annähernd so streng mit ihr sein würde, wie er es im Chat gewesen war würde sie sich sicher in die Hose struseln. Falls sie dann überhaupt eine an hatte... Himmel, diese Gedanken würden sie nicht mehr loslassen, bis es überstanden war, dessen war sie sicher.

Voller vorweggenommener wütender Verlegenheit beendet sie mit zorniger Furcht das Schreiben.

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Mittwoch, 4. September 2013
Wellentanz (9)
Alice klappt den Rechner auf und beginnt.

Damian war in vielerlei Hinsicht ein sehr intensiver Mensch, ein "ganz-oder-gar-nicht" Typ, der keine halben Sachen machte, dabei aber gleichzeitig auf Ausgewogenheit und Balance bedacht war. Und so sehr er Alice auch nach Innen führte so sehr achtete er auch darauf, dass sie auch in der materiellen Welt blieb. Alice Eigenschaft, viele weltliche Angelegenheiten zu behandeln, als seien sie schlichtweg nicht existent machte ihn offenkundig ärgerlich und veranlasste ihn dazu Alice die Anweisung zu geben ab sofort regelmäßig Nachrichten zu konsumieren.

Alice war alles andere als begeistert. Diese Art von Informationen rauschten in aller Regel einfach an ihr vorbei. Sie konnte sich nicht wirklich merken, was der Radio- oder Fernsehsprecher da zu verkünden hatte und ihr Ehrgeiz, daran etwas zu verändern hielt sich, diplomatisch ausgedrückt, in sehr sehr engen Grenzen.

Tja, das war wohl Pech für sie, denn Damian war weit davon entfernt ihre Argumente gelten zu lassen. Er hatte entschieden, das sie sich von nun an informieren würde und ihre Ignoranz ablegte, also hätte sie genau das auch zu tun. Da konnte sie sich sträuben soviel sie wollte, er würde das nicht weiter diskutieren. In einem freiheitlichen Staat zu leben sei keine Selbstverständlichkeit und das Mindeste was man tun könne sei hinzusehen und zur Kenntnis nehmen. Und wenn er auch nicht über diese neue Anordnung für Alice diskutieren würde, kontrollieren würde er sie definitiv. Und dann hätte Alice besser etwas vorzuweisen.

Alice fluchte innerlich. Sie hielt das Ganze für eine ausgesprochen blöde Idee, völlig überflüssig. Das was sie sich an einem Tag mühsam merken müssen würde, wäre am nächsten Tag doch sowieso bereits in allgemeine Vergessenheit geraten, weil dann neue, ach so wichtige Themen durch die Fernseh- und Radiosender dieser Erde tickern würden. Und die müsste sie sich dann aufs Neue merken, nur für den Fall, dass Damian ausgerechnet an diesem Tag auf die Idee käme, abzufragen, was sie vom Tagesgeschehen mitbekommen und behalten hatte.

Der Versuch, so viel wie möglich der niemals endenden Informationsflut aufzunehmen und abzuspeichern löste schon beim bloßen Gedanken daran Widerstand und Unwillen in ihr aus. Dieser Kerl konnte so derartig paradox sein, dass Alice manchmal vor Wut schäumte. Freiheitlichkeit...pah... dass sie nicht lachte! Wie freiheitlich war es denn, Nachrichten ansehen zu MÜSSEN? Und wenn schon irgendetwas so immens wichtig war, dass sie es hätte wissen müssen, hätte er es ihr doch berichten können, er bekam ja eh immer alles mit!

Aber so sehr sie sich auch daran verbiss, die Anweisung nicht ausführen zu wollen, so genau wusste sie auch, dass ihr das nichts nützen würde. Damian konnte so kompromisslos und unverrückbar an den Dingen festhalten, als ginge es um Leben und Tod, und auch diesmal würde er keinen Zentimeter von seiner Forderung abrücken. Sie war sicher, ihm würde etwas einfallen das durchzusetzen und daran hätte sie ganz bestimmt noch weniger Spaß.

Grummelig hatte Alice also damit begonnen, seiner Aufforderung nachzukommen und war trotzdem jedesmal froh, wenn Damian nicht nachfragte, selbst wenn sie ein bisschen Wissen herzeigen konnte. Meist machte es Damian nämlich schlechte Laune und er schimpfte dann über die eine oder andere Nachricht eine Weile vor sich hin. Sie hatte es ja gleich gewusst, diese Angelegenheit würde ihr nur Unannehmlichkeiten machen. Genau wie eine andere Begebenheit...

Darüber würde sie beim nächsten Mal schreiben. Sie beendet ihr Tun.

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Donnerflug (8)
Jede Wartezeit geht irgendwann vorüber und auch Damian tauchte schließlich wieder im Chat auf. Alice muss grinsen, denn bei ihren Wiedertreffen nach kürzeren oder längeren Pausen freute sie sich innerlich jedesmal wie ein zurückgelassener Hund, dessen Besitzer gerade zurückgekehrt war. Sie schüttelt das Bild ab und beginnt zu tippen.

Eines der großen Themen, welches sie beschäftigte war ihre ausgeprägte emotionale Ergriffenheit. Alice war ein mitfühlender Mensch und mochte diese Eigenschaft auch an sich, doch die Heftigkeit ihrer eigenen Empfindungen erlebte sie so manches Mal als beengende Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit. Irgendwann einmal war ihr der Ausspruch "Niemand weint deine Tränen" begegnet, was ja durchaus stimmen konnte, doch sie, sie hatte schon mehr als einmal die Tränen anderer geweint. Manchmal wühlten die Schicksale anderer sie regelrecht auf, der Kummer und das Leid der anderen machten sie dann über alle Maßen betroffen und lösten das dringende Bedürfnis in ihr aus, alles schnellstmöglich wieder in Ordnung zu bringen, den anderen ihren Schmerz und ihr Elend zu nehmen oder wenigstens zu lindern. Gleichzeitig empfand sie dann aber eine Art der Lähmung, eine Schwerfälligkeit welche ihr Energien raubte und ihr das Helfen erschwerte. Bleischwer und träge krochen ihre Gedanken dann voran, beengt durch das zäh-klebrige Wirrwarr der sich vermischenden Gefühle. Manchmal wusste sie nicht einmal, welche davon ihre eigenen Emotionen waren und welche sie nur stellvertretend empfand. Diese übermäßige Durchlässigkeit hatte ja zum Glück Dank Damians Auratipp und ihrer stetigen Umsetzung desselben ganz erheblich nachgelassen. Dennoch wünschte sie sich eine gewisse Unerschütterlichkeit im Umgang mit leidvollen oder unfairen Situationen.

So hatten Alice und Damian gemeinsam die erste Eingebung formuliert, welche Alice darin unterstützen sollte, ungerechten Gegebenheiten mit größerem inneren Abstand, mehr Gelassenheit und Souveränität zu begegnen. Alice war schon seit geraumer Zeit immer wieder in Situationen geraten, in denen niemand außer ihr zu bemerken schien, dass jemand, ein Kind oder auch ein Tier zum Beispiel, Hilfe benötigte. Sie war dann jedesmal erschüttert, aufgebracht und erbost angesichts der Ignoranz der anderen und nur eine eisern aufrechterhaltene Selbstkontrolle hatte sie davor bewahrt, ihre Wut explosiv zu entladen. Natürlich hatte sie trotzdem versucht zu helfen, sie glaubte auch, das im Allgemeinen ganz passabel hinzubekommen, doch sie fühlte sich danach stets ausgelaugt und leer und kaute noch lange auf den intensivst empfundenen Emotionen. Sie wünschte sich sehr, helfen zu können ohne dermaßen gefühlsbetont involviert zu sein, sie hätte gern eine innere Haltung, die ihr eine angemessenere Distanz ermöglichte und weniger Betroffenheit nach sich zog.

Damian hatte Alice mit den Suggestionen an ihr Unterbewusstes wirklich ein großes Stück voran gebracht und ihr ermöglicht, ein gelockerteres Mitgefühl zu entwickeln, welches ihren Blick auf die Dinge freier und ihre Handlungskompetenzen größer machte. Diese Veränderung war ganz sanft und behutsam vonstattengegangen und Alice hatte sich mit ihrem Ergebnis sehr wohl gefühlt.

Sie sieht auf. Wow. Auch im Rückblick beeindruckte sie dieses erste Erlebnis noch immer. Nicht dass es sie wirklich überrascht hätte, im Grunde war sie nach Damians Erklärungen und auch nach allem, was sie sonst schon an Magie mit ihm erleben durfte, fest davon ausgegangen, dass diese Eingebung Erfolg haben würde. Sie erinnert sich deutlich an das Gefühl der Dankbarkeit und muss lächeln. Denn ihre Erinnerung präsentierte ihr soeben ein weiteres, um ein vielfaches stärkeres Dankbarkeitsgefühl. Schnell tippt sie weiter.

Damian entging in aller Regel nicht sonderlich viel, er war ein sehr aufmerksamer Gesprächspartner, der die ihm bedeutsam erscheinenden Angelegenheiten auch hartnäckig so lange immer wieder auf den Tisch holte, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Gleiches galt ganz offenbar für Alices Schlafverhalten. Sie hatte noch nie zu den Menschen gehört, die einschliefen sobald ihr Kopf das Kissen berührte und die dann entspannt die Nacht durchschlummerten, um am nächsten Morgen vollständig erholt aus dem Schlaf zu erwachen. Im Gegenteil, sie tat sich meist schwer damit, einzuschlafen, träumte dann oft wild und verstörend und wurde mehrfach in der Nacht wach ohne danach problemlos weiter schlafen zu können. In der Folge fühlte sie sich verständlicherweise selten ausgeschlafen und komplett fit, womit sie sich aber einigermaßen arrangiert hatte. Was half es denn auch, sich den Tag durch ein bisschen Müdigkeit vergrämen zu lassen? Alice ignorierte das lieber so gut wie möglich und besann sich auf die schönen Dinge des Alltags um sich abzulenken. Und wenn es doch tatsächlich mal nicht anders ging, legte sie sich eben tagsüber etwas hin um das Schlafdefizit ein kleines bisschen abzumildern.

Damian hatte das von Anfang an anders bewertet. Er fand, und vermutlich hatte er auch Recht damit, dass ein gesunder und erholsamer Schlaf wichtig sei und er hatte Alice vorgeschlagen, es mal mit einer Schlafeingebung zu versuchen.

Er würde dazu erst einmal bei ihr nachsehen, welche Art von Eingebung, welche Inhalte sie gerade brauchen konnte und ihr diese dann einflüstern. Das Nachsehen war, so wie er ihr erklärt hatte, eigentlich mehr ein Nachfühlen. Damian konnte Energien fühlen und darin so einiges "lesen". Aktuelle Gefühle zum Beispiel, aber auch Bedürfnisse und Sehnsüchte der Seele konnte er erkennen.

Passend zu dem, was gerade dringend benötigt wurde, formulierte er dann eine suggestive Eingebung, ganz ähnlich den Suggestionen, die auch in der Hypnose Anwendung fanden. Der entscheidende Unterschied zur klassischen Hypnose war hier, dass Damian diese Eingebung problemlos von überall nach überall senden konnte, quasi per Gedankenübertragung. Obwohl viele Kilometer sie trennten konnte und hatte er dann tatsächlich eine Art Unterhaltung mit Alices Unterbewusstsein geführt und herausgefunden was sie genau brauchte und ihr dieses eingegeben.

Alice hatte währenddessen nichts davon bemerkt. Damian hatte ihr zwar gesagt, dass er nun in Trance ginge und die Eingebung sende und Alice sich entspannen und abwarten solle, aber leider hatte sie seinen "Besuch" nicht im geringsten gespürt. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie auch nicht, was er ihr da flüsterte. Er hatte ihr bewusst keine Info dazu gegeben, denn das hätte die Wirkung der Eingebung stören können. Der Kopf, die Verstandesebene sollten außen vor bleiben; zunächst sollte einzig ihr Unterbewusstein angesprochen werden, denn genau auf dieser Ebene sollte und würde die Suggestion wirken.

Und gewirkt hatte sie, ganz fantastisch sogar, denn als sie einige Stunden später ins Bett ging, hatte sie zum ersten Mal seit Langem ganz hervorragend geschlafen. Sie war ganz sanft und völlig problemlos in den Schlaf geglitten und hatte tief und fest die ganze Nacht lang durchgeschlafen.

Faszinierend! So war das also, wenn man vollständig ausgeschlafen war! Die begeisternde Wirkung hatte ein paar Tage angehalten, um dann leider zu Alices großem Bedauern wieder nachzulassen. Sie hatten das einige Male wiederholt, bis Alice schließlich wissen wollte, was sie da eigentlich so wirkungsvoll einschläferte.

Damian hatte ihr das eigentlich nicht so gern verraten wollen, sich dann aber doch überreden lassen und Alice erzählt, dass sie so außergewöhnlich gut schlief, weil ihr Unterbewusstes mitgeteilt bekommen hatte, dass sie gehalten und beschützt wurde und so tief und fest schlafen konnte.

Alice war ziemlich überwältigt. Einerseits war sie hochgradig irritiert über ihre scheinbar offenkundige Schutzbedürftigkeit; sie mochte es ganz und gar nicht, ihre eigene Schutzlosigkeit so deutlich vor Augen zu haben. Andererseits war sie aber auch zutiefst dankbar dafür, dass Damian ihr da augenscheinlich jemand an die Seite gestellt hatte, der es übernahm, ihr erfolgreich die dringend nötige Geborgenheit zu vermitteln.

Und während sie noch darauf herumkaute, dass sie dieser Hilfe überhaupt bedurfte und sich gleichzeitig mit intensiven Gefühlen des Dankes darüber freute, wie angenehm es war, diese Hilfe erhalten zu haben, war ganz langsam eine zögerliche Frage in ihr herauf gekrochen. Ohne sich zunächst zu trauen diese Frage an die Oberfläche kommen zu lassen, hatte Alice dann doch wissen wollen, wer ihr denn eigentlich diesen Schutz gewährte, wer sie hielt und behütete und dabei nicht zu hoffen gewagt, dass Damian es selbst wäre.

Doch genau das hatte er ihr bestätigt und sie damit vollends aus den Schuhen gehauen. Sie war so dermaßen ergriffen davon, dass er sie schützte. Und gleichzeitig war sie fast erschlagen von der Erkenntnis, wie enttäuscht sie gewesen wär, wäre er es nicht selber gewesen, dass sie das intensive Gefühl hatte, verirrt durchs Nirgendwo zu schweben, nicht wissend, wie sie jemals wieder festen Boden unter die Füße bekommen sollte.

Damian hatte ihre Reaktion etwas genervt als überzogenes Theater gewertet, bedauert, ihr überhaupt davon erzählt zu haben und verkündet, dass er ihr eben demnächst einfach einen Engel an die Seite senden würde, welcher ihren Schutz anstatt seiner übernahm.

Das wollte sie nun ganz und gar nicht, irgendwelche Engel gegen Damian eintauschen, doch Alice hatten vor lauter Verwirrung und Bewegtheit die Worte gefehlt, um auszudrücken, wie unbeschreiblich schön, wärmend und berührend sie es fand, was Damian da einige Male für sie gemacht hatte. Immerhin war es ihr gelungen ihn sanft darum zu bitten, an der Eingebung zukünftig nichts zu verändern und Engel Engel sein zu lassen. Sie wünschte sich sehr, dass Damian weiterhin selbst in ihrer Nähe bliebe. Wenn es nach ihr ging wollte sie ihn so oft wie möglich fühlen, ihn um sich wissen und sich ihm verbunden fühlen. Dieses Erlebnis hatte Alices Empfindungen für Damian und ihr außergewöhnliches Verhältnis um ein vielfaches intensiviert.

Als sie den Laptop schließt fühlt sie sich fast etwas entrückt. Am Liebsten würde sie einfach in dieser Erinnerung stecken bleiben.

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Glutmond (7)
Alice hasste die Tage, an denen sie nicht mit Damian chatten konnte und auf ihn warten musste, sie hasste sie wirklich. Immerhin hatte sie eine blühende Fantasie, die ihr die Zeit ein bisschen abkürzen konnte. Sie verliert sich in ihren Träumen...

...Deine Präsenz erfüllt den Raum; du bist deutlich spürbar, überall. Ich dagegen fühle mich winzig, wirklich winzig. Ein bisschen kleiner müsste ich allerdings werden, um schnell im nächstbesten Mauseloch verschwinden zu können. Dabei würde ich ohnehin nicht davonlaufen. Ich genieße es, in deinen Bann gezogen zu sein. Du siehst mich an, lauernd und herausfordernd. In deinem Blick liegen dennoch Wärme und Wohlwollen. Du scheinst dich auf das nun Kommende zu freuen. Ich dagegen darf nicht zu genau hinfühlen, was gerade in mir vorgeht. Flatterig stehe ich da unter deinem prüfenden Blick, nicht wissend ob meine Unsicherheit oder meine Lust die Oberhand gewinnt. Ich habe Herzklopfen. Etwas weiter unten klopft es ebenfalls vibrierend...

Verschnürt. Eng verschnürt. Begrenzt. Festgesetzt. Gehalten. Gebunden. Eingehüllt. Das Seil ist fest, rauh und kratzig auf meiner Haut. Deine Energie ebenso fest, aber streichelweich umschmeichelnd. Nähe. Nah. Sehr nah am Feuer. Flammen züngeln nach mir, ich spüre ihren heißen Hauch...

Dein Blick ist hart. Entschlossenheit umgibt dich. Immer wieder streift sie mich, wie kalte Luft, die hereinströmt und entlangstreicht, wenn man im Winter für einen Moment die Tür öffnet. Dein Ton ist streng und fordernd. Unvermittelt finde ich mich über deinem Knie wieder, eingeklemmt und fest in deinem Griff. Schnelle brennende Schläge treffen meinen Po. Immer wieder. Pausen, in denen du unangenehme Fragen stellst, deren Beantwortung eigentlich überflüssig ist. Doch du bestehst darauf, dass ich antworte. Manchmal gibst du mir vor, was ich zu sagen habe. Dann wieder Schmerz. Zeit und Raum verschwimmen. Ich schwitze.


Warmes Kerzenlicht. Du bist da. Sie ist da. Ich bin da. Sie und ich. Wir stehen mit zur Decke gebundenen Armen und gespreizten Beinen nebeneinander in der Mitte des Raumes. Du gehst langsam um uns herum. Manchmal bleibst du stehen, siehst eine von uns an, forderst Blickkontakt. Du gehst zu ihr. Ich sehe, wie du sie anfasst, mal ganz zart, mal hart und fest. Du wendest dich mir zu. Ich sehe deinen Blick, offen, dabei aber unergründlich tief. In der Hand hälst du eine Gerte. Du benutzt sie nicht. Noch nicht. Du trittst hinter mich. Deine Hand umfasst meinen Hals, ich spüre deinen Atem. Langsam wandert deine Hand weiter an mir hinab, verweilt, packt zu, wandert weiter. Alles an mir ist zum Zerreißen gespannt. Ein brennender Schmerz trifft meinen Arsch. Ich zucke zusammen und schreie leise auf. Gleich nochmal schlägst du mich, diesmal auf den Oberschenkel. Ich zittere. Du drehst dich um und schlägst sie. Sie stöhnt auf. Ich fühle mit ihr. Ich wünschte, du würdest uns losbinden, uns aus der Passivität, dem Warten befreien, uns irgendeine Aufgabe geben. Aber jetzt ist aushalten angesagt. Deine Berührungen sind verwirrend, heiß ersehnt und dann plötzlich doch verhasst, denn manchmal tun sie weh. Dann wieder kann ich nicht genug bekommen, flehe in Gedanken, du mögest mich erneut anfassen, befühlen. Ich ertrage auch den Schmerz, wenn du nur weiter machst, wenn du nur bitte bitte weitermachst...

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Dienstag, 8. Januar 2013
Drachenglut (6)
In Gedanken versunken startet Alice ihren Laptop. Wie war das damals eigentlich genau weitergegangen? Die Chronologie würde sie vielleicht nicht mehr ganz korrekt abbilden können, aber ziemlich zu Anfang hatte sie sich und auch Damian gefragt, woher eigentlich diese Vertrautheit zwischen ihnen stammte. Sie war sich ganz sicher, dass ihre Begegnung kein Zufall war und sie hatte schon früh das Gefühl gehabt, Damian nicht zum ersten Mal zu treffen. Mit dieser Einschätzung stand sie nicht allein, auch Damian glaubte an eine Schiksalsbegegnung. Irgendwo zwischen Psychologiestudium und Hypnoseausbildung hatte Damian sich das nötige Wissen angeeignet, sogenannte Rückführungen durchzuführen. Alice war sich nicht sicher, ob diese im weitesten Sinne noch der Psychologie zuzuordnen waren oder doch schon Grenzbereichen angehörten, doch im Grunde war das auch ganz egal. Damian verband auf elegante Weise die manchmal fast nüchtern anmutenden akademischen Kenntnisse mit den verschlungenen Unerklärlichkeiten der Magie, und Alice hatte keinen Zweifel daran, dass es möglich war, sich in bereits erlebte Situationen aus dem jetzigen, aber eben auch aus vergangenen Leben zurückversetzen zu lassen. Da sie Damian in ihrem aktuellen Leben bisher nicht getroffen hatte, konnte diese Verbundenheit zwischen ihnen doch nur auf gemeinsame Erlebnisse aus frühreren Leben hindeuten, oder? Sie hatte von Damian gelernt, dass es es sogar recht häufig vorkam, dass Menschen sich über mehrere Leben begleiteten und eine karmische Bindung zueinander hatten. Diese Bindungen mussten nicht immer positiver Natur sein, im Gegenteil, manchmal galt es auch uralte Probleme und Verstrickungen aufzulösen, doch in ihrer beider Situation fühlte sich das Miteinander meist ziemlich harmonisch an.

Natürlich war Alices Neugierde sofort entflammt, sie hatte buchstäblich lichterloh gebrannt und wollte sofort alles darüber wissen, woher sie sich kannten, welcher Art ihre damalige Beziehung gewesen war und was genau sie zusammen erlebt hatten. Damian hätte nachsehen können. Er konnte auch sich selbst rückführen, doch er hatte das abgelehnt. Vielleicht wäre ihm irgendwann einmal danach, reinzusehen und herauszufinden woher sie sich kannten. Und noch vielleichter würde er es ihr dann erzählen. Vielleicht aber auch nicht. Ihr Gefühl, dass es sich um eine karmische Verbindung handele, reiche doch völlig aus, Details seien jetzt nicht erforderlich. Das durfte jawohl echt nicht wahr sein! Alice hätte in die Tastatur beißen können. Doch wieder einmal war ihr nichts anderes übrig geblieben als zu warten und sich das Drängeln zu verkneifen. Nicht umsonst gab es das geflügelte Wort "Wissen ist Macht" und in diesem Fall gab Alice Damians Macht nur zähneknirschend und mit Aufbietung großer Teile ihrer Selbstkontrolle nach. Fiel es ihr auch manchmal leicht, sich seiner Führung hinzugeben, seine Entscheidungen zu akzeptieren und genoss sie auch manchmal das loslassen Dürfen sehr, gab es immer wieder Situationen in denen sie den Spieß umgedreht hätte wenn sie nur gekonnt hätte. Alice muss lachen. Allein der Gedanke "den Spieß umzudrehen" war lächerlich. Eher würde die Hölle einfrieren. Trotzdem! Warum fand er es nicht genauso spannend wie sie, zu erfahren woher sie sich bereits kannten? Wieso zum Teufel wollte er nicht sofort nachsehen?

Natürlich hatte Alice sich letztlich gefügt und widerwillig abgewartet und so nach einigen Tagen erfahren, dass sie beide schon einmal ein Verhältnis zueinander gehabt hatten, welches vorerst im Verborgenen bleiben musste. Auch damals hatte Damian als Mann und Alice als Frau gelebt; vermutlich in der Zeit des ausklingenden Frühmittelalters irgendwo im Süden. Fast unglaublicherweise war Damian damals, der sich im jetzigen Leben von allen Religionen und Kirchen mehr als distanzierte, Abt gewesen. Alice war irgendwann in seinem Kloster aufgetaucht und geblieben. Die genauen Umstände blieben Damian zunächst verborgen, aber er hatte gesehen, dass sie beide so viel Zeit wie nur möglich miteinander verbracht hatten und ihr damaliges Liebesverhältnis letztlich scheinbar mehr oder weniger stillschweigend toleriert worden war. Sie hatten sogar gemeinsame Kinder gehabt.

Alice blickt vom Schreiben auf. Ein wenig verwundert erinnert sie sich, dass sie auch bei diesen etwas skurril anmutenden Informationen keinerlei Zweifel an deren Richtigkeit gehegt hatte. Alles floss einfach passend ineinander, fesselte sie unglaublich und hielt sie mit unbeschreiblicher Faszination gefangen. Alles in ihr, jede Faser, jeder Nerv verlangte unerbittlich danach, tiefer und immer tiefer einzutauchen und zu erfahren, zu erkennen, zu begreifen. Fast schaudert Alice bei dem Gedanken daran, wie sehr sie sich dem Einfluss dieser Kraft des Unerklärlichen hingibt und wie unerbittlich sie sich selber immer weiter peitscht ohne sich zwischendurch zu erlauben, zur Ruhe zu kommen. Leise seufzend schreibt sie weiter.

Irgendwann zu dieser Zeit hatte Damian auch damit begonnen, Alice Eingebungen zu machen. Er konnte nicht nur Informationen aus Alices Unterbewussten empfangen, sondern ihm auch welche zukommen lassen, ohne dabei körperlich anwesend sein zu müssen. Er begab sich gedanklich einfach in die Nähe Alices Unterbewusstseins und flüsterte ihr die Eingebungen in ihr mentales Ohr. Wie genau das Ganze von statten ging konnte Alice letztlich auch nicht erklären, sie merkte es meist nicht einmal. Die überzeugende Wirkung allerdings, ja, die hatte sie schon beim allerersten Test feststellen dürfen. Bevor Damian ihr die erste Eingebung gemacht hatte, welche sie in ihrer Entwicklung unterstützen sollte, hatte er zunächst ausprobieren wollen ob, wann und wie sie auf diese Art der seelischen Eingriffe reagierte und hatte ihr also eine Probeeingebung gesendet. Alice hatte währenddesssen rein gar nichts davon gespürt und sie hatten einfach weitergechattet und auf die Dinge gewartet die da so kommen sollten. Nach etwa anderthalb Stunden hatte sie dann plötzlich ohne jeglichen Grund das dringende Bedürfnis gehabt, den Chat zu beenden, den Chatraum zu verlassen und Abstand zu Damian entstehen zu lassen. Sie wollte weg, und zwar zügig. Als sie Damian davon erzählte, hatte dieser gelacht.
Schnell hatte er ihr eine Gegeneingebung geschickt, um die erste, welche ihr so unangenehme Gefühle und Fluchtgedanken eingebracht hatte, zu entkräften. Selbstredend hatte Alice ganz schnell wissen wollen, was er ihr da eigentlich gesendet hatte. Und in diesem Fall hatte Damian sie gnädigerweise nicht zum Warten verdammt sondern ihr direkt erzählt, welche Dinge er ihr so geflüstert hatte. Offenbar hatte er sich als wirklich böser Unhold präsentiert und Alice so dazu veranlasst, ganz dringend die Flucht ergreifen zu wollen sobald ihr Unterbewusstes die Nachricht aufgenommen hatte. Zum Glück hatte die Gegeneingebung in ihr sehr schnell ihre wohltuenden Effekte verbreitet und ihre ungute Stimmung in ruhig lächelnde Zufriedenheit verwandelt. Er hatte ihr darin seine aufrichtige Dankbarkeit für die bisherigen Gespräche und die daraus entstehende Entwicklungsmöglichkeit für ihn selber ausgesprochen. Diese Eingebung, erinnert sich Alice, hatte sie für viele Stunden sehr zufrieden gemacht. Sie hatte Alice ein dauerhaftes Lächeln ins Gesicht gemalt und ihr ein Wohlbefinden vermittelt, welches sie eingehüllt und ausgefüllt hatte wie glitzerndes, wärmendes Sonnenlicht.

Andächtig unterbricht sie das Schreiben. Beeindruckt hatte Damian sie schon am Anfang ihrer gemeinsamen Chats, doch irgendwann war diese simple Anerkennung in heimliche Bewunderung umgeschlagen. Voll inbrünstiger Begeisterung hatte sie das aber weder lange verbergen können noch wirklich verstecken wollen. Damians vielseitige Fähigkeiten verdienten einfach ehrliche Würdigung. Wenn sie sich eines Tages begegneten, würde Alice nicht nur aufgrund der ungleich verteilten Körpergröße zu ihm aufsehen.


Damian hatte ihr erklärt, dass Eingebungen dabei helfen können, erwünschte Entwicklungsprozesse zu unterstützen indem sie den Verstand und das Denken umgehen und direkt aufs Unterbewusste wirken. Eigentlich hätte Alice sich durch diese Erklärung höchst alarmiert fühlen müssen. Manipulationen unter Umgehung ihres Kopfes, ihres Denkens...könnte ein Kontrollverlust denn totaler sein? Ausgerechnet sie, die sich sonst so oft fast krampfhaft an Kontrollierbarkeit festhielt, alles dafür tat, den Überblick zu behalten, nicht ins Schwimmen zu kommen, ausgerechnet sie hatte sich zutraulich, ja, fast vertrauensselig naiv hineingestürzt, versessen darauf auszuprobieren und zu erleben. Eine Angst vor ungewollter Beeinflussung wäre ohnehin überflüssig gewesen, denn Damian leitete sie zwar und half ihr durch den überwucherten Dschungel ihrer Aufgaben, Empfindungen und Wünsche, aber er sorgte auch dafür, dass sie selber nachdachte, selber erarbeitete und entschied. Also konnten sie beginnen.

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Schattenzauber (5)
Alice startet und möchte heute unbedingt festhalten, wie es zwischen Damian und ihr zu diesen besonderen, diesen magischen Verstrickungen gekommen war. Sie kramt in ihrem Gedächtnis.

Als erstes hatte sie sich massivst daran verschluckt, dass er hin und wieder sehr seltsame Formulierungen wählte. Beim ersten Mal hatte sie noch an einen eigenartigen Zufall glauben wollen, obwohl sie auch da schon innerlich zusammengezuckt war und eine deutlich fühlbare Spannung über ihre Haut geströmt war. Doch er hatte sie wiederholt kalt erwischt. Wie war das möglich? Was wusste er da über sie, was sie ihm noch gar nicht erzählt hatte? Er benutzte immer wieder Worte oder Satzteile, die eine besondere Bedeutung für sie hatten, mit denen es in ihrer Vergangenheit eine außergewöhnliche Bewandtnis hatte. Einmal hatte er sie wie selbstverständlich mit einer Art Spitznamen angesprochen, den er unmöglich hatte wissen können. Ein anderes mal hatte er dieselben seltenen Formulierungen gewählt, für die eine Freundin sich entschieden hatte, als sie Alice vor einigen Jahren eine Geschichte geschrieben hatte. Auch damals hatte Alice sich an einem Wendepunkt befunden. Das hatte sie zunächst ziemlich erschreckt, weil es ihren ersten Eindruck, nämlich, dass ein Kontakt zu dem damals noch völlig unbekannten Damian zu Veränderungen führen würde bestätigt hatte und ihr die trügerische Sicherheit genommen hatte, die Kontrolle über das Kommende behalten zu können. Im Grunde wusste sie, dass das Gefühl dieser Art von Sicherheit ohnehin eine Illusion war. Aber damit durch seine Wortwahl konfrontiert zu werden hatte ihr den Boden unter den Füßen weggefegt und sie fühlte sich wie im freien Fall ins nebulöse Dunkel. Es machte ihr große Angst und führte dazu, dass sie innerlich kämpfte.

Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte. Die Tatsache, dass ihr erstes Gefühl, welches sie beim Betrachten von Damians einzelnem Auge gehabt hatte, bestätigt wurde oder dass sie sich eingestehen musste, dass sie bereit, mehr noch, dass sie erpicht darauf war das Ungewisse, das Neue, die Veränderung willkommen zu heißen. Sie hatte sich gesträubt, das zur Kenntnis zu nehmen, hatte versucht, das Bestehende festzuhalten, einzufrieren, es vor dem Verlorengehen zu bewahren, wohl wissend, dass sich die Veränderung sowieso einen Weg suchen würde, mit Damian oder ohne ihn. Doch die Angst in ihr wollte wenigstens so tun, als ob das Leben eine kontrollierbare Angelegenheit sei, wollte sie glauben machen, dass Unbeweglichkeit Schutz und Sicherheit bedeutete. Damian hatte ihren Sturz ins Ungewisse abgemildert. Er hatte sie im übertragenen Sinne auf den Schoß genommen und ihr erklärt, dass hier nicht zwingend ein Widerspruch vorliegen musste, dass man sowohl das Bestehende erhalten konnte und gleichzeitig das Neue willkommen heißen. Er war sehr geduldig und empathisch gewesen und hatte sie über viele Wochen immer wieder in ihrer Auseinandersetzung mit ihren Ängsten begleitet. Außerdem hatte er ihr die Erlaubnis gegeben, das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten als ein spannendes Abenteuer anzusehen und dadurch ihrer Empfindung der Vorfreude auf das Kommende, welche sie sich erst nicht eingestehen wollte, Raum geschaffen. So hatte sie sich mit der Zeit zunächst daran gewöhnt, dass er Formulierungen benutzte, die sie an etwas Wichtiges aus ihrer Vergangenheit erinnerten oder aber auch wie zufällig Hinweise für ihre gegenwärtige Situation enthielten und vielleicht sogar manchmal einen kleinen, schemenhaften Ausblick auf ihre Zukunft boten.

Alice unterbricht ihr Schreiben. Sie erinnert sich nur noch unscharf und verschwommen an die finstere Furcht. Schon sehr lange vor ihrem allerersten Chat mit Damian hatte sich diese Angst in ihr festgesetzt, die unsinnige Angst davor, zu wenig oder sogar gar keinen Einfluss auf zukünftige Begebenheiten ihres Lebens nehmen zu können. Dabei war ihr die Absurdität des Versuches, alles steuern, alles kontrollieren zu wollen durchaus bewusst gewesen, und doch hatte die Furcht vor unabwendbarer und vielleicht ungewollter Veränderung beständig an ihr gefressen, sie regelrecht zerfressen. Obwohl Alice stetig versucht hatte ihre Attacken abzuwehren, ihr Verstand und beherztes Handeln entgegenzusetzen und sich weder von ihr unterkriegen zu lassen noch liegen zu bleiben, wenn sie sie doch einmal zu Fall gebracht hatte. Damian war es auf zauberhafte und unerklärliche Weise gelungen, diese kaltdunkle Angst zu verscheuchen. Und auch wenn das Ganze ein vielschrittiger Prozess gewesen war, war sein Ergebnis doch faszinierend überzeugend. Bewegt tippt sie weiter.

Eine weitere Begebenheit war, dass Damian schon ganz am Anfang erkannt hatte, dass Alice zu der Gruppe der hochsensiblen Menschen gehört, extrem empfindsam, durchlässig und störanfällig sowie allzu sehr mitfühlend und verloren unter der Last der dadurch empfundenen Verantwortung. Sie vermutete, dass ihm ihre Vielschichtigkeit, ihre Reflektionsfähigkeit, ihre Intuition sowie ihre Feinfühligkeit aufgefallen waren genauso wie ihre Tendenz zur Überreaktion, ihr häufiges Gefühl der Überreizung und des Gestresstseins durch Mitmenschen. Er hatte ihr empfohlen, sich gegen zu viele Außenreize abzudichten, sich zu schützen und sich dadurch selbst zu stärken, indem sie zweimal täglich ihre Aura visualisierte. Dazu sollte sie sich vorstellen, dass eine Art weißer Schein sich von ihrer Körpermitte her ballonförmig um sie herum ausbreite und wachse und sie abdichte, dabei immer größer und dichter würde, Fremdeinflüsse von innen nach außen wegschiebe und sie vor Angriffen auf ihre Energien schütze. Die Aura solle ruhig auf einen Radius von mindestens zehn Metern ausgedehnt werden. Um das zu vereinfachen solle sie sich einfach als Miniaturfigur in Größe eines Playmobilmännchens visualisieren und die Aura mit ihren Händen um es herum formen. Abschließend solle sie die äußerste Schicht besonders hell und strahlend und extradicht erscheinen lassen. Alice hatte das einige Tage lang ausprobiert und war von den Ergebnissen mehr als überrascht. Das Gefühl der nackten Schutzlosigkeit war verschwunden, sie konnte allmählich anderen Menschen begegnen, ohne sich danach leergesaugt und erschöpft zu fühlen. Immer schon hatte sie im alltäglichen Miteinander viel gegeben, ohne dabei auf ihre eigenen Grenzen zu achten. Manchmal hatte sie diese nicht einmal wahrgenommen und die Bedürfnisse der anderen automatisch über ihre eigenen gestellt.

Sie blickt auf. Im Grunde wusste sie selber nicht, warum sie das tatsächlich ausprobiert hatte. Eigentlich hatte sie ein ziemlich gespaltenes Verhältnis zu allem, was mit übersinnlichen Phänomenen zu tun hatte. Einerseits fühlte sie in aller Deutlichkeit, dass es Natürlichkeiten gab, welche zwar vermeintlich unwirklich übersinnlich erschienen sobald der Verstand damit begann sie zu sezieren, aber im Moment des Erlebens schlichtweg emotionale Antworten und intuitives, fühlendes Sehen ermöglichten. Andererseits hatte sie sich auch lange vor unerklärlichen Phänomenen gefürchtet. Sie vermutete die Ursache dafür in der unheilschwangeren Dramatik, mit welcher ihr höchstwahrscheinlich viel zu früh mystische Begebenheiten vermittelt worden waren. Zudem war da immer schon die eigene, sie fast verschlingende Neugierde gewesen, die es ihr unmöglich machte einfach einen meilenweiten Bogen um diese Dinge zu schlagen. Nicht, dass sie es nicht versucht hatte, aber die bestrickende Anziehungskraft hatte sie immer wieder vorsichtige Blicke riskieren lassen. Ihre Vorstellung von allem übersinnlich Magischen war bisher eine verzerrte Fratze, welche aus Fetzen schlechter Vorzeichen, Tragik, dunklen Omen, sich ankündigenden Schicksalsschlägen, Gefahr, Grauen und Vorboten unsäglichen Leids zusammen gehalten wurde. Die beste Methode ein wenigstens dünnes Gefühl von Sicherheit aufrechtzuerhalten, war, alle Gedanken und Verbindungen zu Mystischem zu kappen.

Vielleicht konnte sie sich auch nur deshalb auf diese neuen magischen Erfahrungen einlassen, weil Damian selber so wenig an das erinnerte, was man sich im allgemeinen unter einem Esoteriker vorstellte. Er hasste diese Bezeichnung regelrecht und wurde nicht müde sich immer wieder deutlich von diesem Begriff und den darin oft enthaltenen Scharlatanerien und unseriösen Heilsversprechen zu distanzieren. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten waren aber nun mal einfach vorhanden, und er zögerte auch nicht, sie zu nutzen und einzusetzen wenn es ihm angemessen erschien. Auf Alice wirkte er jedoch geradezu sachlich im Umgang mit ihnen, weder plusterte er sich auf, noch bot er irgendeine Art nebelschwadiger, die Angst der anderen ausnutzender Show mit Brimborium und Firlefanz. Er war so wohltuend normal und bodenständig, dass es Alice möglich war, der bohrenden Neugierde in ihr Raum zu geben und ihre alte und unbefriedigende Strategie des Wegdenkens aufzugeben.

Irgendwann hatte er ihr verraten, dass er sie, ihre Energie fühlen konnte und ihr mitgeteilt, dass sie ihn gelegentlich besuchen käme. Ihre Energie sei dann deutlich in seiner Nähe fühlbar. Alice wusste nicht mehr ganz genau, ob diese Information sie verwundert hatte, aber sie erinnerte sich, dass sie detailliert wissen wollte, wie sie sich anfühlte. Sanft, hatte er gesagt, sanft und ihre Energie erinnere an Silberglöckchen. Irgendwann hatte auch Alice Damian zum ersten Mal gespürt. Sie erinnerte sich nur ungern, denn als ihr seine Energie das erste Mal bewusst begegnete, war er sehr böse auf sie gewesen. Dieses Gefühl, als ob eine eiskalte Hand sie im Nacken gepackt hatte und dort unbarmherzig zugriff, hatte sie buchstäblich in sich zusammensinken lassen. Zischende Kälte vermittelte ihr den Eindruck, brennend schockgefrostet zu werden. Unangenehme Schwere hatte sich um sie gelegt, ihre Bewegungen lahm und schwerfällig gemacht und sich in ein kriechendes Krankheitsgefühl verwandelt, welches sich über viele Stunden einfach nicht abschütteln ließ. Irgendwo unter diesen unangenehmen Empfindungen war auch er zu spüren gewesen, sein eigentliches Naturell, sein eigentlicher wesenhafter Kern, den sie später noch auf viel angenehmere Weise spüren sollte.

Nachdenklich stoppt Alice. Soviel war bereits zwischen ihnen geschehen. Das alles aufzuschreiben könnte eine Lebensaufgabe werden. Für heute jedoch hat sie eindeutig genug geschrieben.

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Pendelschlag (4)
Alice startet den Laptop: ihre Gedanken befinden sich im Gestern und versuchen Erinnerungen und Gefühle zu fassen zu bekommen und diese in Worte zu transformieren.

Anfänglich hatten sich ihre Chats vornehmlich um BDSM gedreht. Ein paar eigene Erfahrungen hatte Alice da ja durchaus, aber diese waren lange nicht so vielfältig wie die Damians. Dafür hatte sie aber tausend Fragen gehabt. Und von Beginn an war klar gewesen, wer in den Gesprächen den Ton angab. 'Wer fragt, der führt.' hieß es doch so schön. Nicht so in diesem Fall. Seine Art ein Gespräch zu führen erinnerte sie an einen Tänzer: Er gab den Rahmen vor, in dem man sich gemeinsam bewegte, er ließ ihr genügend Raum, ihre eigenen Bewegungen auszuführen, genügend Freiheit, ihre eigenen Schritte zu tanzen. Und doch bestimmte er wann und wie lange, bestimmte, wann er sie zurückzog, wann sie gemeinsam die Richtung wechselten und welche Schrittfolge gerade angesagt war. Seine Art zu führen hatte etwas Natürliches, etwas Geschmeidiges. Ganz offenbar wusste er genau was er tat und konnte mit Macht umgehen. Er gehörte weder zu der plumpen und fast bemitleidenswerten "KNIE NIEDER, SCHLAMPE"-Fraktion noch zu den Männern, die sie im Chat gelegentlich vorsichtig anspielten um ihre Reaktion zu testen und ihre Zustimmung abzuholen. Aber wie war er eigentlich stattdessen? Er war. Punkt. Seine Autorität blitzte nur hin und wieder durch. Humor gehörte zu seinen Eigenschaften, genauso wie Charme. Er verfolgte seinen eigenen Plan, machte sein Ding, war dabei aber gleichzeitig zugewandt und achtsam, einfühlsam sogar. Abgesehen davon fragte er auch, und zwar gründlich. Es gab wenig, was ihn nicht interessierte. Und wenn ihn etwas interessierte konnte er eine verbissene Hartnäckigkeit entwickeln, es zu erfahren. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es ihr auch nur ein einziges Mal gelungen war, eine seiner Fragen unbeantwortet stehen zu lassen. Weder Gegenfragen noch geschickte Ablenkungsmanöver konnten ihn von einem Thema abbringen, das seine Neugierde geweckt hatte. Manchmal ließ er einen Gedanken auch einfach vorübergehend ruhen, um dann irgendwann wieder darauf zurückzukommen und so doch noch seine Antwort zu bekommen. Ausdauernde Beharrlichkeit zeichnete ihn aus. Oft musste er aber gar nicht besonders nachbohren; Alice gehörte zu den Menschen, denen ein Stichwort oder eine kurze Frage genügte um in epischer Breite ihre Gedanken mitzuteilen. Sie war nicht nur an anderen Menschen interessiert, sie drehte sich auch immer wieder gern um sich selbst.

Aber nicht nur sie, auch er war in vielerlei Hinsicht durchaus mitteilsam, teilte zum Beispiel sein Wissen über BDSM oder seine besonderen Kenntnisse über die Menschen bereitwillig. Auch hinsichtlich seiner vielen unterschiedlichen Erfahrungen als Dom war er ziemlich redselig. Alice hatte es von Anfang an geliebt, ihm zuzuhören. Zuzulesen musste es heißen, denn seine Stimme kannte sie auch Monate nach ihrem ersten Chat noch nicht. Eine Zeit lang hatte sie regelrecht darauf gebrannt wenigstens seinen Tonfall und seine Aussprache kennen zu lernen und manchmal war es ihr so vorgekommen, als ob auch er gern einmal hören würde, wie sie eigentlich klang. Doch bisher war es leider zu keinem Telefonat gekommen, auch wenn er ihr manchmal spielerisch damit gedroht hatte, sie anzurufen, wenn sie nicht augenblicklich irgendeine seiner Aufforderungen umsetzte. Sie hatte sich fast danach verzehrt ihn endlich einmal zu hören und heimlich gehofft, er würde irgendwann einfach am anderen Ende der Leitung sein, wenn ihr Telefon klingelte, alleine um sie aus der Fassung zu bringen und zu genießen, sie eiskalt erwischt zu haben. Sie hatte sich sogar schon überlegt, was sie sagen würde, wenn er sie in einem ungünstigen Moment, in dem sie nicht allein war, erreichen sollte. Es gab Momente in denen sie so dermaßen versessen darauf war, dass das Verlangen sie fast zerriss. Trotzdem musste sie sich vorerst damit begnügen, seine Wortwahl und die Satzstellung im Chat lesen zu dürfen. Seine Eloquenz hatte sie allerdings auch dort schon mehr als gefesselt. Sie liebte Worte. Besonders dann, wenn jemand mit ihnen umgehen konnte. Im Grunde war sie schon bei ihrem ersten Kontakt in seine Dominanz hineingeglitten. Irgendwie hatte er direkt einen Nerv getroffen. Der Wunsch zu folgen war schon so lange sie denken konnte ihr Begleiter, so dass sie sich hin und wieder gefragt hatte, ob es vielleicht bloß ihre eigenen Bedürfnisse sowie ihre Projektionsfähigkeit waren, die ihn so außerordentlich interessant machten und so passend erscheinen ließen. Aber so hatte es sich nicht angefühlt. Es war wohl vielmehr die intensive Wechselwirkung zwischen ihrem Wunsch und ihrer Bereitschaft sich zu fügen, sich hinzugeben und seiner mit Vertrauenswürdigkeit gepaarten Stärke. Sie hatte schon lange intuitiv gewusst, dass sie sich einfinden können würde, dass sie einem entsprechenden Gegenüber folgen könnte, ihre schwache Seite ein Stück weit zulassen können würde, obwohl sie sehr oft gegen sie ankämpfte. Doch die tatsächliche Erfahrung war neu für sie. Neu und alternativlos. Sein Weg, oder eben kein Weg. Und doch achtete er ihren Weg, manchmal sogar mehr als sie selbst. Eigenartigerweise hatte er sich von Anfang an vertraut angefühlt. Es kam ihr vor, als hätte sie schon lange auf die Begegnung mit ihm, ja, auf ihn gewartet. Deshalb hatte es sie auch nicht wirklich gewundert, dass diese einzigartige Beziehung mehr war als ein bloßes Dom-Sub Verhältnis. Der magische Anteil an ihm, das Spirituale ihrer Beziehung kam ihr seltsam normal vor. Es hatte sie sogar fast weniger gewundert als die eigenartige Sachlage, dass sie sich von ihm dominieren ließ, dass sie tatsächlich seine Anweisungen umsetzte, wirklich seine Befehle befolgte.

Sie blickt auf. Das Gefühl, gerade gar nicht über sich selber zu schreiben macht sich in ihr breit. Kann das denn wahr sein? Kann es möglich sein, dass jemand Aufforderungen einer Person umsetzt, die er nicht einmal gesehen hat; deren Stimme er nicht einmal kennt? Alice muss lachen. Natürlich konnte es wahr sein. Es konnte nicht nur, nein, es WAR. Es war ein ganz realer Fakt. Nicht jemand, sondern sie, Alice, führte aus, was Damian von ihr verlangte. Und das, obwohl viele Kilometer sie trennten. Irre. Total irre. Aber es gefiel ihr, soviel stand fest. Er war aber auch zu geschickt. Alice wendet sich wieder der Tastatur zu, denn sie will versuchen festzuhalten und zu erklären wie er es eigentlich genau angestellt hatte, sie nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.

Eine seiner ersten Ansagen an sie war der sadistische Befehl zu warten gewesen. Alice hasste es zu warten. Geduld hatte noch nie zu ihren Stärken gehört. Aber in diesem speziellen Fall war es besonders misslich. Sie war wegen einer Frage an ihn ganz aufgeregt, hatte danach gefiebert, seine Antwort zu lesen. Und Damian hatte ihre hektische Neugierde schamlos dazu benutzt, ihr drängelndes Generve in mehr oder weniger geduldiges Abwarten zu verwandeln. Er hatte einfach verkündet, dass Alice seine Antwort erst dann erhalte, wenn sie ruhig und geduldig sei und nun erstmal ein paar Minuten warten würde. Süffisant grinsend (das hatte sie nicht sehen können, aber sie war dennoch sicher, dass es so war) hatte er hinzugefügt, dass es eine seiner Spezialitäten sei, Frauen zur Geduld zu erziehen. Als sie in der ersten Wartephase angefangen hatte zu maulen, hatte er einfach kurzerhand um einige Minuten verlängert. Mistkerl, elender! Wie gern hätte sie da gezetert und genölt oder ihn wenigstens mit stetiger Nachbohrerei weichgenervt. So saß sie da allein mit ihrem Ärger und musste den auch noch soweit im Zaum halten, dass er zumindest nicht vulkanartig aus ihr heraus brach und im Chat lesbar wurde. Doch was war ihr anderes übrig geblieben als einzulenken? Damain hätte sie mit Vergnügen noch eine Weile mit warten müssen gequält. Irgendwann wär's ihm zu bunt geworden und er hätte das Thema entweder zu den Akten gelegt oder den Chat verlassen; vielleicht auch beides. Wenn sie also Wert auf seine Antwort legte, und das tat sie, musste sie ihm Folge leisten. Also hatte sie versucht sich 'runterzufahren und möglichst widerspruchslos abzuwarten. So hatte sie dann ihre Antwort tatsächlich erhalten, obwohl sie ihm auch durchaus zugetraut hätte, das Thema mit sadistischer Freude trotzalledem noch zu verschieben.

Ein anderes Mal hatte Damian sie dazu gebracht, täglich ein paar Minuten auf Zehenspitzen zu laufen; etwas, was sie bis heute befolgte. Es war um Highheels gegangen, eine ganz offenkundige Vorliebe Damians, welche Alice aber nicht geteilt hatte. Sie war nicht besonders wild darauf sich die Knochen zu brechen, nur um ein paar Zentimeter größer durch die Welt zu staksen. Außerdem knickte sie auch in flachen Schuhen laufend aus heiterem Himmel um. Mit dieser Info hatte sie das Thema als erledigt betrachtet. Sie. Er nicht. Damian war der Ansicht, dass dieses Problem behebbar sei und hatte angekündigt, dass er sie bei einem realen Treffen in jedem Falle so aufknüpfen würde, dass Alice auf Zehenspitzen würde stehen müssen. Also sei ab sofort tägliches Training für sie angesagt, welches sie auch besser durchführen würde. Denn, er würde sich vorführen lassen, wie gut und wie lange sie auf den Fußspitzen herumtippeln könne und das Ergebnis solle dann besser zu seiner Zufriedenheit ausfallen.
Alles andere wäre sehr ungünstig für sie. Obwohl zu dieser Zeit gar kein reales Treffen geplant war, ja, nicht einmal feststand, dass es je eines geben würde, war Damian ihr sehr überzeugend vorgekommen. Sie konnte nicht ausschließen ihn eines Tages wirklich zu treffen und sie war sich sicher, dass er das, was er soeben angekündigt hatte dann auch in die Tat umsetzen würde.
Was hatte er denn da eigentlich genau angekündigt? Bisher waren es nur vage Warnungen gewesen, nicht mal Drohungen. Was für eine perfide Methode! Er überließ es ihrem überaktiven Hirn, sich in bedrohlich grellen Farben auszumalen, was geschehen würde, wenn sie sich seiner Anweisung aufsässig widersetzte. Und er selber würde sich in jedem Falle platzieren wie Persil am Himmel, schließlich hatte er sie ja gewarnt. Sie konnte seine sarkastische Argumentation schon fast hören.
Außerdem hatte sie das starke Gefühl, dass er bei Gelegenheit ohnehin nachfragen würde, ob sie seine Anweisung befolgte und garantiert merken würde, wenn sie ihm dann nicht die Wahrheit sagte. Alice war der festen Überzeugung, dass er auch auf die Entfernung Mittel und Wege finden würde sie zu strafen. Also hatte Alice angefangen das Zehenspitzenlaufen zu trainieren. Nachdem sie nun ohnehin tat, was er verlangt hatte, war sie auch ziemlich neugierig welche Erfolge das bringen würde und hatte nach einiger Zeit beim Shopping ein paar Highheels anprobiert. Es war nicht zu fassen, da hatte dieser Schuft doch wieder einmal Recht behalten! Erstaunlich problemlos war sie durch den Laden stolziert, worüber sie sich so sehr gefreut hatte, dass sie die Schuhe kurzerhand kaufte.

Einmal hatte Damian sie gezwungen, ihr Profil mit einem eigens dafür ausgesuchten Bild zu verunstalten. Es zeigte ein scheußliches Huhn mit Kochlöffel in der geflügelten Hand. Oft nannte er sie Huhn oder Suppenhuhn und Schläge mit dem Kochlöffel hatte er ihr ebenfalls schon einige Male "versprochen" und sich darüber amüsiert, dass Alice versucht hatte ihm dieses unerotische Schlaginstrument auszureden- erfolglos übrigens. Er hatte sogar geplant dieses verdammte Teil mit ihr gemeinsam einzukaufen. Sie würde sich in Grund und Boden schämen, wenn er das wahr machte. Garantiert würde man ihnen ansehen, was da angedacht war. Warum sonst sollten ein Mann und eine Frau gemeinsam einen einzelnen Kochlöffel kaufen? Sie hoffte sehr, dass dieser Kelch an ihr vorüberging.

Klar war, dass seine Dominanz, seine Art BDSM zu zelebrieren in ihr eine starke Resonanz erzeugten.

Alice Blick fällt auf die Uhr. Mist! Klar war auch, dass sie nun keine Zeit mehr hatte. Hektisch speichert sie das Geschriebene und beendet für heute.

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Feuerfels (3)
Alice startet nachdenklich ihren Rechner. Wie beschreibt man einen Mann, der derart facettenreich und vielschichtig war? Wie fasst man ein Leben zusammen, ohne gleich ein ganzes Buch mit Lettern, Sätzen, Fakten, Geschichten und Erlebnissen zu füllen? Zögernd beginnt sie zu tippen.

Damian war in eine Unternehmerfamilie geboren worden. Seine Mutter war Französin, weshalb Damian zweisprachig aufwuchs und viel Zeit in Frankreich verbrachte. Große Teile seiner Familie lebten den jüdischen Glauben. Damian war jedoch, wie er selber sagte, weitestgehend religionsfrei groß geworden und offenbar war ihm weder die jüdische noch irgendeine andere Religion übergestülpt worden. Dennoch schien er sich im Hinblick auf die verschiedensten Weltanschauungen ziemlich gut auszukennen, ganz offenbar kannte er auch deren geschichtliche sowie politische Hintergründe und sonstigen Zusammenhänge, die Alice zwar interessant fand, solange Damian darüber referierte, sich aber kaum ansatzweise merken konnte. Jedoch fühlte er sich zu keiner Religion hingezogen, im Gegenteil, er stand ihnen nicht nur kritisch gegenüber, er verabscheute sie sogar.

Schon früh hatte Damian seine Leidenschaft für den Sport entdeckt. Die Liebe zu Pferden und zum Reiten hatte er, wie er sagte, von seinem Vater, aber auch sonst brauchte er die Bewegung offenbar wie die Luft zum atmen. Das war bis heute so. Er war Sportler, durch und durch. Körperbeherrschung war Passion für ihn. Er hatte ihr erzählt, dass er lange aktiv Karate als Leistungssport betrieben hatte. Als es soweit war eine Berufswahl zu treffen, hatte er sich schwer getan zu entscheiden. Bestimmt hätte ihm eine sportliche Karriere ebenso offen gestanden, wie die Möglichkeit, in das Unternehmen seines Vaters einzusteigen. Doch Damian hatte sich nach langem Überlegen für ein Psychologiestudium entschieden. Danach hatte es ihn in die Werbebranche verschlagen.

Inzwischen war er vielbeschäftigter Besitzer zweier Werbeagenturen und arbeitete oft von morgens bis nachts. Er liebte ganz offenkundig die kreativen Anteile seines Berufes und hatte, obwohl er immer die gigantische Oberflächlichkeit der Branche mokierte, großen Spaß an seiner Arbeit. Alice vermutete, dass das ein Grund mit dafür war, dass Damians Arbeits-Erholungsbilanz häufig sehr unausgewogen ausfiel. Natürlich hatte er auch einfach eine große Verantwortung und immer viel zu tun, aber, er hatte ihr auch mal gesagt, dass er das Gefühl, sich an der Grenze zu bewegen brauche und dass ihm das intensive Arbeiten zudem durchdringende Lebendigkeit vermittelte.

Damian schätzte die schönen Künste, liebte Musik und Malerei und scheinbar vielerlei Arten von Kreativität. Alice freute sich sehr darüber, einmal von ihm gelesen zu haben, dass er ihre Texte ebenfalls liebte. Er musizierte und komponierte selbst, auch wenn er dazu wohl nur sehr selten Zeit fand. Außerdem schrieb er satirische Texte und hatte sich irgendwann einmal auch politisch-satirisch auf Bühnen bewegt.

Alice wusste nicht mehr genau, wer von ihnen beiden sich mehr geziert hatte, dem jeweils anderen ein vollständiges Foto zu zeigen, doch nachdem sie schließlich ein paar Momentaufnahmen von Damian gesehen hatte, hatte sie ihren ersten Eindruck bestätigt gefunden. Das prägnanteste an ihm waren für Alice ganz klar seine dunklen Augen, die auf einem Bild auch einen Stich ins grüne aufwiesen, der Blick so wach und gleichzeitig tiefgründig, amüsiert humorvoll genauso wie ernst, besonnen und leidenschaftlich spontan gleichermaßen, gelassen und zurückgelehnt nur so lange bis er zum plötzlichen Sprung ansetzen wollte. Er war groß und durchtrainiert. Hin und wieder verglich sie ihn mit einem Panther, denn er machte einen kraftvoll geschmeidigen Eindruck auf Alice. Damians Gesicht war insgesamt markant und ausdrucksstark. Die Mundpartie wirkte leicht arrogant, was aber durch gleichzeitig erkennbare Freundlichkeit abgemildert wurde. Sein innerer Facettenreichtum spiegelte sich auch in seinem Äußeren wieder und Alice vermutete, dass er daran gewöhnt war Blicke auf sich zu ziehen.

Vor einigen Jahren war er bereits einmal verheiratet gewesen, und mit seiner Exfrau verbanden ihn, neben der Zeit, während der sie miteinander ge- und erlebt hatten, zwei außergewöhnlich hübsche, mittlerweile pubertierende Töchter. Alice las es gern, wenn er von ihnen sprach, sie mochte den fürsorglichen, von Liebe angefüllten Unterton sehr. Seine Kinder hatten einen ganz besonderen Stellenwert für ihn und gemeinsam mit Lilia, Damians gerade frisch gebackener, feenhaft schöner Ehefrau, würden sie sich bald zweier kleiner Geschwister erfreuen.

Alice mochte Lilia sehr, obwohl sie Lilia noch nie gesehen hatte. Auch die beiden Frauen chatteten regelmäßig miteinander und hatten schon einige Male zusammen telefoniert. Lilias offene, forsche und etwas übermütige Art gefiel Alice und sie spürte eine zunehmende Verbundenheit und einen gewissen seelischen Gleichklang zu der sensiblen und feinfühligen Lilia.

Damian hatte seine Beziehung zu Lilia nach einigen Jahren schließlich besiegeln wollen, denn obwohl die beiden im Grunde auch vorher schon ein Paar waren, hatten sie doch erst spät den offiziellen Beschluss gefasst, von nun an zu zweit durchs Leben zu gehen und das bisherige Miteinander, welches durch starke Freiheitlichkeit geprägt war gegen mehr Verbindlichkeit einzutauschen. Von Anfang an hatten die beiden sich zueinander hingezogen und auch bald nah und verbunden gefühlt. Mittlerweile war Lilia zu Damian gezogen und bald darauf schwanger geworden. Inzwischen hatten sie ihre Beziehung durch eine Hochzeit gekrönt. Alices Ansicht nach, passten Damian und Lilia ganz hervorragend zusammen und sie freute sich mit ihnen über die märchenhafte Entwicklung ihrer Beziehung.

Alice hört auf zu tippen. Sie glaubt, nun ein doch recht rundes Bild von Damian gezeichnet zu haben, und auch wenn es sicherlich noch jede Menge erwähnenswerte Details gab, beschließt sie, sich im nächsten Blogeintrag einem anderen ausgesuchten Thema zuzuwenden: Ihrem gemeinsamen BDSM.

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