Dienstag, 8. Januar 2013
Schattenzauber (5)
Alice startet und möchte heute unbedingt festhalten, wie es zwischen Damian und ihr zu diesen besonderen, diesen magischen Verstrickungen gekommen war. Sie kramt in ihrem Gedächtnis.

Als erstes hatte sie sich massivst daran verschluckt, dass er hin und wieder sehr seltsame Formulierungen wählte. Beim ersten Mal hatte sie noch an einen eigenartigen Zufall glauben wollen, obwohl sie auch da schon innerlich zusammengezuckt war und eine deutlich fühlbare Spannung über ihre Haut geströmt war. Doch er hatte sie wiederholt kalt erwischt. Wie war das möglich? Was wusste er da über sie, was sie ihm noch gar nicht erzählt hatte? Er benutzte immer wieder Worte oder Satzteile, die eine besondere Bedeutung für sie hatten, mit denen es in ihrer Vergangenheit eine außergewöhnliche Bewandtnis hatte. Einmal hatte er sie wie selbstverständlich mit einer Art Spitznamen angesprochen, den er unmöglich hatte wissen können. Ein anderes mal hatte er dieselben seltenen Formulierungen gewählt, für die eine Freundin sich entschieden hatte, als sie Alice vor einigen Jahren eine Geschichte geschrieben hatte. Auch damals hatte Alice sich an einem Wendepunkt befunden. Das hatte sie zunächst ziemlich erschreckt, weil es ihren ersten Eindruck, nämlich, dass ein Kontakt zu dem damals noch völlig unbekannten Damian zu Veränderungen führen würde bestätigt hatte und ihr die trügerische Sicherheit genommen hatte, die Kontrolle über das Kommende behalten zu können. Im Grunde wusste sie, dass das Gefühl dieser Art von Sicherheit ohnehin eine Illusion war. Aber damit durch seine Wortwahl konfrontiert zu werden hatte ihr den Boden unter den Füßen weggefegt und sie fühlte sich wie im freien Fall ins nebulöse Dunkel. Es machte ihr große Angst und führte dazu, dass sie innerlich kämpfte.

Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte. Die Tatsache, dass ihr erstes Gefühl, welches sie beim Betrachten von Damians einzelnem Auge gehabt hatte, bestätigt wurde oder dass sie sich eingestehen musste, dass sie bereit, mehr noch, dass sie erpicht darauf war das Ungewisse, das Neue, die Veränderung willkommen zu heißen. Sie hatte sich gesträubt, das zur Kenntnis zu nehmen, hatte versucht, das Bestehende festzuhalten, einzufrieren, es vor dem Verlorengehen zu bewahren, wohl wissend, dass sich die Veränderung sowieso einen Weg suchen würde, mit Damian oder ohne ihn. Doch die Angst in ihr wollte wenigstens so tun, als ob das Leben eine kontrollierbare Angelegenheit sei, wollte sie glauben machen, dass Unbeweglichkeit Schutz und Sicherheit bedeutete. Damian hatte ihren Sturz ins Ungewisse abgemildert. Er hatte sie im übertragenen Sinne auf den Schoß genommen und ihr erklärt, dass hier nicht zwingend ein Widerspruch vorliegen musste, dass man sowohl das Bestehende erhalten konnte und gleichzeitig das Neue willkommen heißen. Er war sehr geduldig und empathisch gewesen und hatte sie über viele Wochen immer wieder in ihrer Auseinandersetzung mit ihren Ängsten begleitet. Außerdem hatte er ihr die Erlaubnis gegeben, das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten als ein spannendes Abenteuer anzusehen und dadurch ihrer Empfindung der Vorfreude auf das Kommende, welche sie sich erst nicht eingestehen wollte, Raum geschaffen. So hatte sie sich mit der Zeit zunächst daran gewöhnt, dass er Formulierungen benutzte, die sie an etwas Wichtiges aus ihrer Vergangenheit erinnerten oder aber auch wie zufällig Hinweise für ihre gegenwärtige Situation enthielten und vielleicht sogar manchmal einen kleinen, schemenhaften Ausblick auf ihre Zukunft boten.

Alice unterbricht ihr Schreiben. Sie erinnert sich nur noch unscharf und verschwommen an die finstere Furcht. Schon sehr lange vor ihrem allerersten Chat mit Damian hatte sich diese Angst in ihr festgesetzt, die unsinnige Angst davor, zu wenig oder sogar gar keinen Einfluss auf zukünftige Begebenheiten ihres Lebens nehmen zu können. Dabei war ihr die Absurdität des Versuches, alles steuern, alles kontrollieren zu wollen durchaus bewusst gewesen, und doch hatte die Furcht vor unabwendbarer und vielleicht ungewollter Veränderung beständig an ihr gefressen, sie regelrecht zerfressen. Obwohl Alice stetig versucht hatte ihre Attacken abzuwehren, ihr Verstand und beherztes Handeln entgegenzusetzen und sich weder von ihr unterkriegen zu lassen noch liegen zu bleiben, wenn sie sie doch einmal zu Fall gebracht hatte. Damian war es auf zauberhafte und unerklärliche Weise gelungen, diese kaltdunkle Angst zu verscheuchen. Und auch wenn das Ganze ein vielschrittiger Prozess gewesen war, war sein Ergebnis doch faszinierend überzeugend. Bewegt tippt sie weiter.

Eine weitere Begebenheit war, dass Damian schon ganz am Anfang erkannt hatte, dass Alice zu der Gruppe der hochsensiblen Menschen gehört, extrem empfindsam, durchlässig und störanfällig sowie allzu sehr mitfühlend und verloren unter der Last der dadurch empfundenen Verantwortung. Sie vermutete, dass ihm ihre Vielschichtigkeit, ihre Reflektionsfähigkeit, ihre Intuition sowie ihre Feinfühligkeit aufgefallen waren genauso wie ihre Tendenz zur Überreaktion, ihr häufiges Gefühl der Überreizung und des Gestresstseins durch Mitmenschen. Er hatte ihr empfohlen, sich gegen zu viele Außenreize abzudichten, sich zu schützen und sich dadurch selbst zu stärken, indem sie zweimal täglich ihre Aura visualisierte. Dazu sollte sie sich vorstellen, dass eine Art weißer Schein sich von ihrer Körpermitte her ballonförmig um sie herum ausbreite und wachse und sie abdichte, dabei immer größer und dichter würde, Fremdeinflüsse von innen nach außen wegschiebe und sie vor Angriffen auf ihre Energien schütze. Die Aura solle ruhig auf einen Radius von mindestens zehn Metern ausgedehnt werden. Um das zu vereinfachen solle sie sich einfach als Miniaturfigur in Größe eines Playmobilmännchens visualisieren und die Aura mit ihren Händen um es herum formen. Abschließend solle sie die äußerste Schicht besonders hell und strahlend und extradicht erscheinen lassen. Alice hatte das einige Tage lang ausprobiert und war von den Ergebnissen mehr als überrascht. Das Gefühl der nackten Schutzlosigkeit war verschwunden, sie konnte allmählich anderen Menschen begegnen, ohne sich danach leergesaugt und erschöpft zu fühlen. Immer schon hatte sie im alltäglichen Miteinander viel gegeben, ohne dabei auf ihre eigenen Grenzen zu achten. Manchmal hatte sie diese nicht einmal wahrgenommen und die Bedürfnisse der anderen automatisch über ihre eigenen gestellt.

Sie blickt auf. Im Grunde wusste sie selber nicht, warum sie das tatsächlich ausprobiert hatte. Eigentlich hatte sie ein ziemlich gespaltenes Verhältnis zu allem, was mit übersinnlichen Phänomenen zu tun hatte. Einerseits fühlte sie in aller Deutlichkeit, dass es Natürlichkeiten gab, welche zwar vermeintlich unwirklich übersinnlich erschienen sobald der Verstand damit begann sie zu sezieren, aber im Moment des Erlebens schlichtweg emotionale Antworten und intuitives, fühlendes Sehen ermöglichten. Andererseits hatte sie sich auch lange vor unerklärlichen Phänomenen gefürchtet. Sie vermutete die Ursache dafür in der unheilschwangeren Dramatik, mit welcher ihr höchstwahrscheinlich viel zu früh mystische Begebenheiten vermittelt worden waren. Zudem war da immer schon die eigene, sie fast verschlingende Neugierde gewesen, die es ihr unmöglich machte einfach einen meilenweiten Bogen um diese Dinge zu schlagen. Nicht, dass sie es nicht versucht hatte, aber die bestrickende Anziehungskraft hatte sie immer wieder vorsichtige Blicke riskieren lassen. Ihre Vorstellung von allem übersinnlich Magischen war bisher eine verzerrte Fratze, welche aus Fetzen schlechter Vorzeichen, Tragik, dunklen Omen, sich ankündigenden Schicksalsschlägen, Gefahr, Grauen und Vorboten unsäglichen Leids zusammen gehalten wurde. Die beste Methode ein wenigstens dünnes Gefühl von Sicherheit aufrechtzuerhalten, war, alle Gedanken und Verbindungen zu Mystischem zu kappen.

Vielleicht konnte sie sich auch nur deshalb auf diese neuen magischen Erfahrungen einlassen, weil Damian selber so wenig an das erinnerte, was man sich im allgemeinen unter einem Esoteriker vorstellte. Er hasste diese Bezeichnung regelrecht und wurde nicht müde sich immer wieder deutlich von diesem Begriff und den darin oft enthaltenen Scharlatanerien und unseriösen Heilsversprechen zu distanzieren. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten waren aber nun mal einfach vorhanden, und er zögerte auch nicht, sie zu nutzen und einzusetzen wenn es ihm angemessen erschien. Auf Alice wirkte er jedoch geradezu sachlich im Umgang mit ihnen, weder plusterte er sich auf, noch bot er irgendeine Art nebelschwadiger, die Angst der anderen ausnutzender Show mit Brimborium und Firlefanz. Er war so wohltuend normal und bodenständig, dass es Alice möglich war, der bohrenden Neugierde in ihr Raum zu geben und ihre alte und unbefriedigende Strategie des Wegdenkens aufzugeben.

Irgendwann hatte er ihr verraten, dass er sie, ihre Energie fühlen konnte und ihr mitgeteilt, dass sie ihn gelegentlich besuchen käme. Ihre Energie sei dann deutlich in seiner Nähe fühlbar. Alice wusste nicht mehr ganz genau, ob diese Information sie verwundert hatte, aber sie erinnerte sich, dass sie detailliert wissen wollte, wie sie sich anfühlte. Sanft, hatte er gesagt, sanft und ihre Energie erinnere an Silberglöckchen. Irgendwann hatte auch Alice Damian zum ersten Mal gespürt. Sie erinnerte sich nur ungern, denn als ihr seine Energie das erste Mal bewusst begegnete, war er sehr böse auf sie gewesen. Dieses Gefühl, als ob eine eiskalte Hand sie im Nacken gepackt hatte und dort unbarmherzig zugriff, hatte sie buchstäblich in sich zusammensinken lassen. Zischende Kälte vermittelte ihr den Eindruck, brennend schockgefrostet zu werden. Unangenehme Schwere hatte sich um sie gelegt, ihre Bewegungen lahm und schwerfällig gemacht und sich in ein kriechendes Krankheitsgefühl verwandelt, welches sich über viele Stunden einfach nicht abschütteln ließ. Irgendwo unter diesen unangenehmen Empfindungen war auch er zu spüren gewesen, sein eigentliches Naturell, sein eigentlicher wesenhafter Kern, den sie später noch auf viel angenehmere Weise spüren sollte.

Nachdenklich stoppt Alice. Soviel war bereits zwischen ihnen geschehen. Das alles aufzuschreiben könnte eine Lebensaufgabe werden. Für heute jedoch hat sie eindeutig genug geschrieben.