Dienstag, 8. Januar 2013
Drachenglut (6)
In Gedanken versunken startet Alice ihren Laptop. Wie war das damals eigentlich genau weitergegangen? Die Chronologie würde sie vielleicht nicht mehr ganz korrekt abbilden können, aber ziemlich zu Anfang hatte sie sich und auch Damian gefragt, woher eigentlich diese Vertrautheit zwischen ihnen stammte. Sie war sich ganz sicher, dass ihre Begegnung kein Zufall war und sie hatte schon früh das Gefühl gehabt, Damian nicht zum ersten Mal zu treffen. Mit dieser Einschätzung stand sie nicht allein, auch Damian glaubte an eine Schiksalsbegegnung. Irgendwo zwischen Psychologiestudium und Hypnoseausbildung hatte Damian sich das nötige Wissen angeeignet, sogenannte Rückführungen durchzuführen. Alice war sich nicht sicher, ob diese im weitesten Sinne noch der Psychologie zuzuordnen waren oder doch schon Grenzbereichen angehörten, doch im Grunde war das auch ganz egal. Damian verband auf elegante Weise die manchmal fast nüchtern anmutenden akademischen Kenntnisse mit den verschlungenen Unerklärlichkeiten der Magie, und Alice hatte keinen Zweifel daran, dass es möglich war, sich in bereits erlebte Situationen aus dem jetzigen, aber eben auch aus vergangenen Leben zurückversetzen zu lassen. Da sie Damian in ihrem aktuellen Leben bisher nicht getroffen hatte, konnte diese Verbundenheit zwischen ihnen doch nur auf gemeinsame Erlebnisse aus frühreren Leben hindeuten, oder? Sie hatte von Damian gelernt, dass es es sogar recht häufig vorkam, dass Menschen sich über mehrere Leben begleiteten und eine karmische Bindung zueinander hatten. Diese Bindungen mussten nicht immer positiver Natur sein, im Gegenteil, manchmal galt es auch uralte Probleme und Verstrickungen aufzulösen, doch in ihrer beider Situation fühlte sich das Miteinander meist ziemlich harmonisch an.

Natürlich war Alices Neugierde sofort entflammt, sie hatte buchstäblich lichterloh gebrannt und wollte sofort alles darüber wissen, woher sie sich kannten, welcher Art ihre damalige Beziehung gewesen war und was genau sie zusammen erlebt hatten. Damian hätte nachsehen können. Er konnte auch sich selbst rückführen, doch er hatte das abgelehnt. Vielleicht wäre ihm irgendwann einmal danach, reinzusehen und herauszufinden woher sie sich kannten. Und noch vielleichter würde er es ihr dann erzählen. Vielleicht aber auch nicht. Ihr Gefühl, dass es sich um eine karmische Verbindung handele, reiche doch völlig aus, Details seien jetzt nicht erforderlich. Das durfte jawohl echt nicht wahr sein! Alice hätte in die Tastatur beißen können. Doch wieder einmal war ihr nichts anderes übrig geblieben als zu warten und sich das Drängeln zu verkneifen. Nicht umsonst gab es das geflügelte Wort "Wissen ist Macht" und in diesem Fall gab Alice Damians Macht nur zähneknirschend und mit Aufbietung großer Teile ihrer Selbstkontrolle nach. Fiel es ihr auch manchmal leicht, sich seiner Führung hinzugeben, seine Entscheidungen zu akzeptieren und genoss sie auch manchmal das loslassen Dürfen sehr, gab es immer wieder Situationen in denen sie den Spieß umgedreht hätte wenn sie nur gekonnt hätte. Alice muss lachen. Allein der Gedanke "den Spieß umzudrehen" war lächerlich. Eher würde die Hölle einfrieren. Trotzdem! Warum fand er es nicht genauso spannend wie sie, zu erfahren woher sie sich bereits kannten? Wieso zum Teufel wollte er nicht sofort nachsehen?

Natürlich hatte Alice sich letztlich gefügt und widerwillig abgewartet und so nach einigen Tagen erfahren, dass sie beide schon einmal ein Verhältnis zueinander gehabt hatten, welches vorerst im Verborgenen bleiben musste. Auch damals hatte Damian als Mann und Alice als Frau gelebt; vermutlich in der Zeit des ausklingenden Frühmittelalters irgendwo im Süden. Fast unglaublicherweise war Damian damals, der sich im jetzigen Leben von allen Religionen und Kirchen mehr als distanzierte, Abt gewesen. Alice war irgendwann in seinem Kloster aufgetaucht und geblieben. Die genauen Umstände blieben Damian zunächst verborgen, aber er hatte gesehen, dass sie beide so viel Zeit wie nur möglich miteinander verbracht hatten und ihr damaliges Liebesverhältnis letztlich scheinbar mehr oder weniger stillschweigend toleriert worden war. Sie hatten sogar gemeinsame Kinder gehabt.

Alice blickt vom Schreiben auf. Ein wenig verwundert erinnert sie sich, dass sie auch bei diesen etwas skurril anmutenden Informationen keinerlei Zweifel an deren Richtigkeit gehegt hatte. Alles floss einfach passend ineinander, fesselte sie unglaublich und hielt sie mit unbeschreiblicher Faszination gefangen. Alles in ihr, jede Faser, jeder Nerv verlangte unerbittlich danach, tiefer und immer tiefer einzutauchen und zu erfahren, zu erkennen, zu begreifen. Fast schaudert Alice bei dem Gedanken daran, wie sehr sie sich dem Einfluss dieser Kraft des Unerklärlichen hingibt und wie unerbittlich sie sich selber immer weiter peitscht ohne sich zwischendurch zu erlauben, zur Ruhe zu kommen. Leise seufzend schreibt sie weiter.

Irgendwann zu dieser Zeit hatte Damian auch damit begonnen, Alice Eingebungen zu machen. Er konnte nicht nur Informationen aus Alices Unterbewussten empfangen, sondern ihm auch welche zukommen lassen, ohne dabei körperlich anwesend sein zu müssen. Er begab sich gedanklich einfach in die Nähe Alices Unterbewusstseins und flüsterte ihr die Eingebungen in ihr mentales Ohr. Wie genau das Ganze von statten ging konnte Alice letztlich auch nicht erklären, sie merkte es meist nicht einmal. Die überzeugende Wirkung allerdings, ja, die hatte sie schon beim allerersten Test feststellen dürfen. Bevor Damian ihr die erste Eingebung gemacht hatte, welche sie in ihrer Entwicklung unterstützen sollte, hatte er zunächst ausprobieren wollen ob, wann und wie sie auf diese Art der seelischen Eingriffe reagierte und hatte ihr also eine Probeeingebung gesendet. Alice hatte währenddesssen rein gar nichts davon gespürt und sie hatten einfach weitergechattet und auf die Dinge gewartet die da so kommen sollten. Nach etwa anderthalb Stunden hatte sie dann plötzlich ohne jeglichen Grund das dringende Bedürfnis gehabt, den Chat zu beenden, den Chatraum zu verlassen und Abstand zu Damian entstehen zu lassen. Sie wollte weg, und zwar zügig. Als sie Damian davon erzählte, hatte dieser gelacht.
Schnell hatte er ihr eine Gegeneingebung geschickt, um die erste, welche ihr so unangenehme Gefühle und Fluchtgedanken eingebracht hatte, zu entkräften. Selbstredend hatte Alice ganz schnell wissen wollen, was er ihr da eigentlich gesendet hatte. Und in diesem Fall hatte Damian sie gnädigerweise nicht zum Warten verdammt sondern ihr direkt erzählt, welche Dinge er ihr so geflüstert hatte. Offenbar hatte er sich als wirklich böser Unhold präsentiert und Alice so dazu veranlasst, ganz dringend die Flucht ergreifen zu wollen sobald ihr Unterbewusstes die Nachricht aufgenommen hatte. Zum Glück hatte die Gegeneingebung in ihr sehr schnell ihre wohltuenden Effekte verbreitet und ihre ungute Stimmung in ruhig lächelnde Zufriedenheit verwandelt. Er hatte ihr darin seine aufrichtige Dankbarkeit für die bisherigen Gespräche und die daraus entstehende Entwicklungsmöglichkeit für ihn selber ausgesprochen. Diese Eingebung, erinnert sich Alice, hatte sie für viele Stunden sehr zufrieden gemacht. Sie hatte Alice ein dauerhaftes Lächeln ins Gesicht gemalt und ihr ein Wohlbefinden vermittelt, welches sie eingehüllt und ausgefüllt hatte wie glitzerndes, wärmendes Sonnenlicht.

Andächtig unterbricht sie das Schreiben. Beeindruckt hatte Damian sie schon am Anfang ihrer gemeinsamen Chats, doch irgendwann war diese simple Anerkennung in heimliche Bewunderung umgeschlagen. Voll inbrünstiger Begeisterung hatte sie das aber weder lange verbergen können noch wirklich verstecken wollen. Damians vielseitige Fähigkeiten verdienten einfach ehrliche Würdigung. Wenn sie sich eines Tages begegneten, würde Alice nicht nur aufgrund der ungleich verteilten Körpergröße zu ihm aufsehen.


Damian hatte ihr erklärt, dass Eingebungen dabei helfen können, erwünschte Entwicklungsprozesse zu unterstützen indem sie den Verstand und das Denken umgehen und direkt aufs Unterbewusste wirken. Eigentlich hätte Alice sich durch diese Erklärung höchst alarmiert fühlen müssen. Manipulationen unter Umgehung ihres Kopfes, ihres Denkens...könnte ein Kontrollverlust denn totaler sein? Ausgerechnet sie, die sich sonst so oft fast krampfhaft an Kontrollierbarkeit festhielt, alles dafür tat, den Überblick zu behalten, nicht ins Schwimmen zu kommen, ausgerechnet sie hatte sich zutraulich, ja, fast vertrauensselig naiv hineingestürzt, versessen darauf auszuprobieren und zu erleben. Eine Angst vor ungewollter Beeinflussung wäre ohnehin überflüssig gewesen, denn Damian leitete sie zwar und half ihr durch den überwucherten Dschungel ihrer Aufgaben, Empfindungen und Wünsche, aber er sorgte auch dafür, dass sie selber nachdachte, selber erarbeitete und entschied. Also konnten sie beginnen.