Donnerstag, 5. September 2013
Blütenfluss (12)
Alice lächelt als sie heute zu schreiben beginnt. Damian konnte wirklich tolle Dinge. Und noch toller war, dass er ihr eines davon gezeigt hatte. Er hatte sie dazu angeleitet in ihre eigene Unterwelt zu reisen. Zu Alice großem Entzücken waren ihr diese Reisen gelungen.

Damian hatte ihr genau erklärt, wie sie vorgehen musste. Zunächst sollte sie sich Trommelmusik besorgen, welche es ihr erleichtern würde einen Trancezustand zu erreichen. Dann sollte sie die Reise vorbereiten: Die Musik auflegen, alle Störquellen ausschalten, die Telefone abstellen z.B., sich eine Decke und ein Tuch zum abdunkeln der Augen besorgen. Außerdem sollte sie sich Stift und Papier zum aufschreiben ihrer Eindrücke zurecht legen, denn alles, was sie gegebenfalls während ihrer Reise wahrnehmen würde, verschwand ganz schnell, sobald man die Trance verlassen hatte.

Um es vor dem Vergessen zu bewahren musste man alles direkt notieren, sofort wenn man aus der Trance wieder erwacht war. Sonst verflüchtigten sich die Informationen ebenso schnell wie nächtliche Träume es tun. Ganz wichtig war, dass sie sich beim Zurückkommen aus der Trance selbst instruierte, gleich wieder vollständig im Hier und Jetzt zu sein, körperlich fit und geistig hellwach. Alice sollte die Welten deutlich voneinander trennen, überwiegend und vor allem vollständig in der materiellen Welt sein und nur gelegentliche kurze Ausflüge in die Unterwelt machen.

Hinein finden in ihre Unterwelt würde sie durch ein vorgestelltes Loch im Boden, welches in eine lange Treppe mündete die sie direkt nach unten zum Eingangstor führte. Wenn sie vollkommen entspannt und ganz tief in sich bei diesem Eingang angekommen war, sollte sie hindurchtreten, sehen, welche Landschaft sich ihr eventuell zeigen würde und dort in Gedanken herumspazieren und einfach darauf warten, wer oder was ihr begegnete. Natürlich könne sie auch eine Frage mit hinunter nehmen, z.B. ob jemand eine Nachricht für sie habe.

Dann sollte sie einfach abwarten ob und welche Bilder, Gedanken und Gefühle für sie bereit waren. Sie durfte alles zulassen was kommen sollte, es sich ansehen und hinfühlen. Die Bilder, die sich ihr zeigen mochten, würden vermutlich schattenhaft oder verschwommen sein, vielleicht würde sie Farben sehen, vielleicht aber auch nicht und die Sinneseindrücke dort unten wären ganz sicher anders, als die, welche sie aus der hiesigen Welt kannte. Alles, was sich ihr darbieten würde sollte sie als bewusste Erinnerung mit nach oben ins Hier und Jetzt nehmen, sobald sie das Gefühl hatte, dass sie die Unterwelt verlassen wollte.

Alice erinnert sich genau wie sehr sich auf diese Reisen gefreut hatte. Sie war unglaublich neugierig gewesen, was sie dort unten erwarten würde. Allerdings konnte sie sich von einem gewissen Leistungsgedanken nicht ganz freisprechen. Sie bewunderte Damian für all die Magie die er beherrschte und wollte unbedingt auch etwas davon können oder lernen. Damian hatte ihr zwar vermittelt, sie solle ganz frei und gelöst und ohne spezielle Erwartungen an die Sache herangehen; trotzdem war es ihr ziemlich wichtig, ein paar interessante Eindrücke von ihrer Reise mitzubringen.

Voller Vorfreude hatte sie also Damians Anweisungen befolgt, alle Vorbereitungen getroffen und hatte begonnen. Sehr deutlich konnte sie vor ihrem inneren Auge das Loch im Boden sehen, durch das sie hineingelangen würde. Es befand sich in ihrer Vorstellung an einer bestimmten, auch real existenten Stelle im Wald und bei der Fantasie hineinzusteigen und die Treppe zu betreten hatte sie ganz deutlich das Erdreich sehen und den angenehmen Duft feuchter Erde riechen können. Auch die verästelten, knorrigen und zu immer dünner werdenden Fäden der Wurzeln der umstehenden Bäume hatte sie klar gesehen.

Sie war eine lange Steintreppe hinunter gegangen. Sehr lang. Denn schließlich sollte sie dadurch in Trance kommen. Als sie das Gefühl hatte, völlig entspannt zu sein, hatte sie eine Holztür gesehen. Dahinter schimmerte es himmelblau. Himmelblau und wolkig weiß. Sie war durch die Tür gegangen und von einer angenehm warmen und dichten Athmosphäre empfangen worden. Sie hatte die Stimmung dort sofort geliebt. Geborgenheit, Ruhe und warmes Eingehülltsein hatten sie erfasst.

Und dann, ja dann war ihr tatsächlich etwas begegnet. Während der Reise in die Unterwelt, war sie sehr ruhig und fast sachlich gewesen, außer einem ausgeprägten Wohlgefühl hatte sich kaum eine Emotion den Weg in ihr Bewusstsein gesucht.

Offen und interessiert hatte sie alle Eindrücke aufgenommen, mit stiller Zufriedenheit darüber, dass es tatsächlich etwas zu sehen und erleben gab. Alice blickt auf. Soll sie das tatsächlich alles verschriftlichen? All diese so persönlichen Dinge und Begegnungen? Nein, sie entscheidet sich dagegen. Das würde ihr privates Geheimnis bleiben. Naja, nicht ganz, denn Damian hatte sie natürlich davon erzählt, nachdem sie aus der Trance erwacht war.

Sie hatte sich unbeschreiblich entspannt und wohl gefühlt, ganz ruhig und ausgeglichen. Tiefe Zufriedenheit hatte sie ausgefüllt. Der Wunsch eine solche Reise zu wiederholen hatte allerdings bereits angeklopft.

Damian hatte dann alles mit ihr besprochen und sie geschickt durch die Interpretation des Gesehenen geführt. Er hatte ihr außerdem erklärt, dass es zwei Arten gab die Unterwelt aufzusuchen. Die eine diente dem Abholen von Informationen, so wie sie es eben getan hatte. Es war aber auch möglich hinunter zu gehen um sich zu entspannen und zu sich zu kommen. Dabei dürfte man dann Eindrücke die sich darboten einfach ignorieren, sich entspannen, ein bisschen umherspazieren oder auch gerne einfach einschlafen. Das würde ihr, mit ihren immer mal wieder auftretenden Schlafschwierigkeiten sicher sehr zugute kommen.

Ein oder zweimal hatten sie das Ganze wiederholt, mit immer neuen Eindrücken, Erlebnissen und Erkenntnissen für Alice. Sie war begeistert. Am liebsten wäre sie nun jeden Tag in ihre Unterwelt gereist um dort Informationen zu bekommen und Neuigkeiten zu erfahren. Da sie aber noch ein bisschen unbeholfen war, was deren Interpretation anging, benötigte sie Damians Hilfe, denn sonst wäre der Erkenntnisgewinn ziemlich dünn. Er teilte ihre Begeisterung ohnehin nicht. Im Gegenteil, er wollte nicht, dass das Reisen zu einer Art Droge verkam, von der sie immerzu mehr und noch mehr konsumierte.

Er hatte ihr das Ganze sicher nicht gezeigt, um ihr Futter für ihre Sucht nach Trance zu bieten. Sie durfte gern zum Einschlafen hinuntergehen, denn im Schlaf ging jeder Mensch eh genau dort hin, aber andere Reisen würden sie gemeinsam und wohldosiert machen.

Alice grummelte etwas. Dieser Typ hatte wirklich irgendwie überall seine Finger im Spiel und im Zweifel, so wie jetzt auch, den Daumen drauf. Was würde es schon schaden einfach ein wenig öfter hinunter zu gehen? Nicht, dass sie noch eine Information verpasste. Schließlich hatte sie jahrelang, achwas, jahrzehntelang nicht eine einzige Reise dieser Art unternommen. Dann war es doch jetzt verständlich wenn sie ein bisschen nachholen wollte.

Er fand aber, dass sie es langsam angehen lassen sollte. Vor allem sollte sie mal innehalten und zur Kenntnis nehmen, was da gerade alles mit ihr passierte. Sich daran erfreuen, ohne direkt zur nächsten Attraktion zu hetzen. Es war ja auch nicht so, dass er Unrecht hatte, aber sie wollte schon wirklich dringend wieder reisen. Außerdem, manchmal verschluckte sie sich regelrecht an den vielen "Damian findet", "Damian sagt" und "Damian will" in ihrem Kopf. Es war schon fast eine Selbstverständlichkeit geworden, entweder in Gedanken oder auch tatsächlich seine Einschätzung irgendeiner Sache anzuhören und sich daran zu orientieren. Fast erschreckte es sie.

Vielleicht wäre es an der Zeit, mal bewusst das Gegenteil zu tun. Schon allein um ein Gegengewicht zu schaffen. Trotzig hatte sie überlegt, einfach heimlich zu reisen. Aber sie hatte sich doch schnell dagegen entschieden. Sie fand es sehr undankbar, das zu tun und sie hatte auch ein bisschen Schiss, wie Damian damit umgehen würde. Freudensprünge würde er sicher nicht machen. Nein, sie würde sich gedulden und an dem erfreuen, was sie bisher hatte erleben dürfen. Und einfach ab und zu mal vorsichtig nachfragen, ob sie nicht doch noch einmal reisen könnte, falls er nicht schnell genug von sich aus darauf käme. Halbwegs zufrieden mit dieser Entscheidung hatte sie das Thema vorerst ruhen lassen.

Alice schließt den Rechner.